„Die Israelis wachsen aus ihren Komplexen heraus“

1635

Anlässlich der Uraufführung seines Stückes Verklärte Nacht am stadtTheater walfischgasse sprach der berühmte israelische Dramatiker und Regisseur Joshua Sobol mit Marta S. Halpert über seine Verbindung zu Wien und seine Heimat Israel.

wina: Europäischen und Wiener Theaterbesuchern sind Sie vornehmlich dadurch bekannt, dass Sie gerne heikle Themen aus der Vergangenheit, und nicht nur jüdische, aufgreifen. Man kennt Ihre Stücke „Ghetto“, „Weiningers Nacht“, den „Fall Jägerstätter“ und natürlich die weltweit reisende „Alma“. Sie haben nun am Wiener stadtTheater walfischgasse ihr Stück „Verklärte Nacht“ zur Uraufführung gebracht. Darin lassen Sie ein Paar im Cyberspace verschwinden. Wie kam es zu dieser Idee?

Joshua Sobol: Seit meiner Studienzeit in Paris in den 1970er-Jahren hat mich das Thema fasziniert, da ich zusätzlich zum Fach Philosophie einen Kurs in Informatik belegte. Und obwohl damals Computer und auch das Wissen darüber noch in den Kinderschuhen steckten, war mir bewusst, dass die Software-Entwicklung unsere Gesellschaft nachhaltig verändern würde.

wina: Sie haben „Verklärte Nacht“ mit der großartigen Mercedes Echerer – im stadtTheater walfischgasse noch im Februar und März zu sehen – auch selbst inszeniert, aber bereits 1997 geschrieben. Waren Sie mit der Vision von einer virtuellen Welt, die uns unserer Identität, Individualität und auch persönlicher Sicherheiten beraubt, zu früh dran?

JS: Vielleicht, denn heute können sich schon viele Menschen in diese Situation hineindenken: Dass man statt nutzloser Zimmerwände sprechende Screens hat, die man auch steuern kann. Ich habe mir vorgestellt, dass ein Mann nach Hause kommt und sagt, ich möchte im Schwarzwald sein oder einen Tag mit Van Gogh verbringen – und beides erscheint sofort auf der Wand.

wina: Der starke Wien-Bezug ist in Ihren Werken nicht zu übersehen. Woher kommt diese Affinität?

JS: Es begann mit der Recherche zu meinem Stück Night of 20th/Laila 20, das 1976 in Haifa herauskam. Darin habe ich mich mit den Pionieren der Kibbuzbewegung beschäftigt, und sie kamen alle aus dem Gebiet der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monar­chie, aus Wien, Baden und Lemberg, zum Beispiel Siegfried Bernfeld, einer der bedeutendsten jüdischen Psychoanalytiker und Pädagogen. Er gehörte in Wien zum engen Kreis um Sigmund Freud, sein reformpädagogisches Werk gehört zu den psychoanalytischen Klassikern. Bernfeld wuchs in Wien auf und engagierte sich schon in den Jahren von 1914 bis 1921 in der zionistischen Jugendbewegung. Als ich die Tagebücher dieser Gruppe gelesen habe, bin ich darauf gestoßen, dass sie großteils Schüler von Sigmund Freud gewesen waren und die Theorien Otto Weiningers heftig diskutierten. Da sie alle für eine Gesellschaft kämpften, in der Männer und Frauen gleichberechtigt sein sollten, war es für sie eine intellektuelle Herausforderdung, Weininger zu widerlegen, der ja die Ansicht vertrat, dass dies unmöglich sei.

wina: Sind Sie vielleicht so auf die Figur Weininger gestoßen?

JS: Ja, ich wurde sehr neugierig und wollte unbedingt sein Hauptwerk Geschlecht und Charakter lesen. Es war zwar ins Hebräische übersetzt, aber damals vergriffen. Ich habe dann in einem Antiquariat in Tel Aviv eine Originalausgabe gefunden und lernte Deutsch, um es lesen zu können.

wina: Das war keine leichte Einstiegslektüre für einen Anfänger?

JS: Das stimmt, aber insgesamt wurde ich bereichert, denn ich begann mich für das Fin de siècle und für Gustav Mahler zu interessieren. Als ich an Weiningers Nacht arbeitete, habe ich viel Musik von Mahler gehört. Ich wollte auch ein Stück über ihn schreiben.

wina: Und was ist passiert? Hat Alma den Gustav verdrängt?

JS: Ja, genau das ist mir passiert. Je mehr ich über Mahler, sein Leben und das Umfeld gelesen habe, umso mehr hat dann in meiner Phantasie Alma den Platz von Mahler eingenommen.

wina: Wie kam die enge Zusammenarbeit mit Paulus Manker zustande?

JS: Paulus Manker hat zuerst bei Peter Zadek am Hamburger Schauspielhaus den Otto Weininger gespielt, bevor er am Wiener Volkstheater 1988 selbst die Regie und die Hauptrolle übernahm. Zu dieser Zeit war ich in London und er hat mir interessante Dokumente aus dem Rathaus über Karl Lueger geschickt. Ein paar Jahre später schrieb ich für die Wiener Festwochen ein Auftragswerk: Der Vater; Untertitel: Eine blutige Komödie. Das Stück handelte von NS-Reichsminister Hans Frank, dem berüchtigten Generalgouverneur von Polen – auch als „Judenschlächter von Krakau“ bekannt – und basierte auf dem Buch seines Sohnes Niklas Frank. Paulus Manker hat Regie geführt, und die antisemitischen Zitate aus den Rathaus-Protokollen haben wir da eingebaut.

„Mit atheistisch ist gemeint, dass ich nicht an die Existenz eines Gottes glaube, denn meiner Meinung nach ist Gott ein Produkt menschlicher Vorstellungskraft.“Joshua Sobol

wina: Sie haben in Österreich aber auch eine positive Vorlage gefunden, die sie zu einem Theaterstück verarbeitet haben, nämlich „iWitness“ („Augenzeuge“). Darin geht es um den Fall Franz Jägerstätter, einen Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen, der von den Nazis exekutiert wurde. Warum hat Sie das interessiert?

JS: Ich habe ein Buch über Kinder gelesen, die ohne Väter aufgewachsen waren, weil diese in diversen Widerstandsaktionen ihr Leben lassen mussten. Darunter war auch die Geschichte von Jägerstätter. Als 2002 die zweite Intifada voll im Gang war und der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern immer bitterer wurde, weigerten sich einige IDF-Piloten, zivile Ziele zu bombardieren. Ich empfand, dass sie mit dieser Haltung zum israelischen Humanismus beigetragen haben. Daher drehte sich das Drama um zivilen Widerstand als Pflicht und die Person Jägerstätter als positives Vorbild. Paulus Manker hat am Cameri Theatre in Tel Aviv Regie geführt, es ist dann noch in St. Gallen und Los Angeles gespielt worden.

wina: Sie bezeichnen sich als einen „atheistischen Juden?“ Was ist das?

JS: Mit atheistisch ist gemeint, dass ich nicht an die Existenz eines Gottes glaube, denn meiner Meinung nach ist Gott ein Produkt menschlicher Vorstellungskraft. Dementsprechend gibt es auch keinen Teufel. Das Judentum, zu dem ich mich bekenne, ist auf humanistische Werte gebaut, da ist Gott nur ein Zusatz, die Werte können auch ohne Gott existieren.

wina: Was ist dann jüdisch an Ihren Wertvorstellungen?

JS: Zur Zeit des Zweiten Tempels existierten zwei Denkschulen: die des Rabbi Hillel und jene des Rabbi Schamai. Als ein Nichtjude konvertieren wollte und zu Schamai kam, wurde er mit der Begründung abgewiesen, es bestünde kein Bedarf an neuen Konvertiten. Bei Hillel gab man ihm nur einen Leitsatz mit und sagte, darin sei die gesamte Thora enthalten. Der Spruch lautete: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Daran glaube ich, denn wenn das gelebt wird, ist der Andere ebenso kostbar und wichtig wie du selbst. Und wenn ich mich um den anderen ebenso kümmere wie um mich – dann ist das der Jude in mir. Ich identifiziere mich vollkommen mit der jüdischen Geschichte und könnte mir mich ohne diese Lebenslinien nicht vorstellen. Aber das Schreckliche, das den Juden widerfahren ist, kam nicht durch Gottes Wort, sondern der Menschen Hand. Daher wäre meine Definition des Judentums: Respektlosigkeit gegenüber jeder Autorität, die vorgibt, Gott auf Erden zu vertreten.

„Netanjahu hat zwar die Trachtenberg-Kommission zur Lösung diverser sozialer Probleme eingesetzt, doch außer einer Steuererhöhung ist nichts passiert.“ Joshua Sobol

wina: Wie beurteilen Sie den aktuell aufgebrochenen Konflikt in Israel zwischen den Haredim und den säkularen Israelis?

JS: Ich glaube nicht, dass dieser Konflikt weiter eskalieren wird, denn die Haredim haben schon versucht, weitere Gesetze der Mehrheit aufzuoktroyieren und sind damit auf massive Ablehnung gestoßen. Auch viele Frauengruppen haben gezeigt, dass sie sich nicht auseinanderdividieren lassen. In Beth Shemesh bei Jerusalem sind religiöse und säkulare Frauen auf die Straße gegangen und haben miteinander getanzt, um ihre Entschlossenheit zu zeigen.

wina: Würden Sie zu diesem Thema ein Stück schreiben?

JS: Ich habe 2005 ein Stück mit dem Titel Kol Nidrei geschrieben, das ziemlich erfolgreich war. Es basierte auf der Tatsache, dass sehr viele junge Haredim ihre ultrareligiöse Gemeinschaft verlassen. Sie gehen sehr verschwiegen damit um, denn sie müssen schwer um ihre Existenz „da draußen“ kämpfen: Sie sind nämlich stark benachteiligt, weil sie nach dem Unterricht in den ultraorthodoxen Schulen keine Ausbildung oder Erfahrung für das tägliche Leben mitbringen.

wina: Werden die sozialen Proteste in Israel weitergehen oder wegen der Bedrohung von außen wieder verschwinden?

JS: Die israelische Gesellschaft ist gesund, weil sie so offen und extrovertiert ist und alles gleich auslebt. Ich sehe, dass die Israelis „erwachsener“ geworden sind und auch aus dem Komplex herauswachsen, weil wir Feinde haben, vergessen wir alle sozialen und innenpolitischen Probleme. Es gab leider wieder Hamas-Angriffe und die Proteste gingen weiter, da die Menschen gesagt haben: Ja, wir müssen uns um unsere Sicherheit kümmern, aber wir werden deshalb unseren Protest gegen die sozialen Ungerechtigkeiten nicht stoppen.

wina: Wie sieht Ihre Prognose für 2012 aus?

JS: Im Sommer werden sich die Proteste noch verschärfen, denn die Menschen fühlen sich betrogen: Premier Netanjahu hat zwar die TrachtenbergKommission zur Lösung diverser sozialer Probleme eingesetzt, doch außer einer Steuererhöhung ist nichts passiert. Die nächste große Welle der Proteste könnte auch zu einer Veränderung der politischen Balance führen. Meine Hoffnung ist jedenfalls, dass die nächste Wahl in Israel zugunsten einer liberalen Mitte-links-Mehrheit ausgeht.

wina: Aus welchen Parteien soll sich diese liberal denkende Mitte rekrutieren?

JS: Ich denke natürlich an Kadima, Ha’avoda (Arbeitspartei), vielleicht auch die neue Gruppierung um Yair Lapid. Aber auch die arabischen Vertreter in der Knesset spielen eine immer größere Rolle. Wenn die arabischen Parteien klug wären, würden sie sich zu einem Block zusammenschließen, denn sie hätten dann zusammen 20 bis 25 Mandatare. Dazu muss man wissen, dass es in der 120-köpfigen Knesset schon reicht, etwa 10 bis 12 Abgeordnete zu gewinnen, damit ein Bündnis die Mehrheit erhält.

„Es gäbe jetzt die Chance für einen vernünftigen Friedensvertrag, da beide Seiten genug haben von den kriegerischen Auseinandersetzungen.“

wina: Man hört wenig von den Auswirkungen des Arabischen Frühlings auf die Menschen in Israel, was sie fühlen und denken?

JS: Nun, die Menschen sind hauptsächlich wegen Ägypten verunsichert, weil sie nicht wissen, was die dortige neue Regierung mit sich bringt. Vor allem beschäftigt sie die Frage, ob die neue Führung den Friedensvertrag respektieren wird. Falls ja, kümmert es leider wenige, ob die Ägypter für sich mehr oder weniger Scharia-Gesetze einführen. Mich berührt das aber schon, denn ich fände es sehr schade, wenn diese Revolution nur eine zusätzliche muslimische Repub­lik hervorbringen würde.

wina: Ist die Stimmung abwartend oder ängstlich?

JS: Die Israelis haben keine Angst. Nach einer jüngsten Umfrage ist eine Mehrheit von 57 Prozent bereit, für einen schnellen Frieden Konzessionen zu machen, nämlich sowohl einen palästinensischen Staat neben Israel zu akzeptieren, als auch Siedlungen tief im palästinensischen Gebiet aufzugeben.

Es gäbe jetzt die Chance für einen vernünftigen Friedensvertrag, da beide Seiten genug haben von den kriegerischen Auseinandersetzungen. Sogar aus Gaza hört man von der Bevölkerung, die regen Handel mit Israel treibt, dass sie gerne ohne Friktionen arbeiten und leben möchten. Alle am Konflikt Beteiligten haben diesen mehr als satt. Das ist jetzt die Chance.

Zur Person

Joshua Sobol wurde am 24. August 1939 als Sohn zionistischer Einwanderer aus Osteuropa im Dorf Tel Mond geboren und zählt heute für das Publikum in Deutschland, Österreich und der Schweiz als der wohl bedeutendste israelische Bühnenautor, Dramatiker und Theaterregisseur. Er hat bisher 63 Stücke geschrieben, die in Europa und den USA mit großem Erfolg aufgeführt wurden.

Er besuchte ein Gymnasium in Tel Aviv und war 1957–1965 Mitglied des Kibbuz Schamir. Im Anschluss an den Militärdienst studierte er am Oranim College in Tel Aviv Literatur und Geschichte. 1965–1969 absolvierte er ein Philosophiestudium an der Pariser Sorbonne, das er mit der Promotion abschloss und besuchte dann 1969/70 die Ecole Nationale D’Informatique in Paris.

Sobols internationale Karriere als Dramatiker begann 1983 mit Weiningers Nacht, einem Stück über den jüdischen Philosophen und Frauenhasser Otto Weininger. Ein Welterfolg war 1984 sein Stück Ghetto, das Peter Zadek an der Berliner Volksbühne inszenierte. Das Stück beschäftigt sich mit dem Schicksal der Juden im Ghetto Vilnius während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Es wurde in über 25 Ländern aufgeführt, 2006 verfilmt und vielfach ausgezeichnet.

1996 kreierte Sobol gemeinsam mit Paulus Manker das Polydrama Alma – A Show Biz ans Ende, eine interaktive theatralische Reise durch das Leben der Künstlermuse Alma Mahler-Werfel. Die Inszenierung wurde zur Kultaufführung und reiste in 16 Jahren und in über 400 Aufführungen von Wien über Jerusalem bis nach Los Angeles. msh

Aktuell wird sein Stück Verklärte Nacht im Wiener stadtTheater walfischgasse uraufgeführt.

Termine unter stadttheater.org.

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here