Was die Mafia dem Islam voraus hat

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Nach den Anschlägen von Paris wird dieselbe Debatte geführt wie schon nach „9/11“ und dem dänischen Karikaturenstreit. Am Ende sind immer alle anderen schuld, nur nicht der Islam. Die Mafia ist da schon viel weiter.

Von Oliver Jeges

Man stelle sich folgende Situation vor: Irgendwo zwischen Manhattan und Palermo fallen wieder einmal irgendwelche armen Schweine der Cosa Nostra zum Opfer. Sagen wir, es handelt sich um fünf Männer in ihren Dreißigern. Ihre von Kugeln durchsiebten Leichen werden an einem Flussufer angespült oder zwischen Plastiktüten und Essensresten auf einer Deponie gefunden. Was die Männer getan haben, dass sie mit Maschinengewehren niedergestreckt wurden, ist unerheblich. Wahrscheinlich haben sie überhaupt gar nichts verbrochen. Sie waren schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort. Fünf Männer, auf bestialische Weise ermordet – ein Gewaltdelikt, so brutal, dass sämtliche Medien davon berichten.

Im Falle des Islam, auf dessen Konto die allermeisten Terrorakte der Gegenwart gehen, spielt man weiterhin die Opferkarte.

Und nun stelle man sich vor, wie vom New Yorker Bürgermeister abwärts bis zum europäischen Provinzpolitiker jeder Beamte, der ein Mikrofon unter die Nase gehalten bekommt, davor warnt, jetzt nicht alle Italiener unter Generalverdacht zu stellen. Italiener seien tadellose Menschen, eine überwältigende Mehrheit „verhalte sich friedlich“. Im Übrigen seien es die Italiener selbst, die am meisten unter dem Terror der Mafia litten. Der Mord an den fünf Männern, so hieße es, sei vor allem ein Anschlag auf Italien. In den sozialen Netzwerken verbreitete sich schnell der Hashtag #illeatwithyou. Weil durch die mörderische Tat der Cosa Nostra nun sämtliche Italiener als Verbrecher stigmatisiert seien, bewiesen alle Nicht-Italiener, dass sie jederzeit mit einem Italiener essen gehen würden. Aus Solidarität. Als Zeichen der Mitmenschlichkeit. Als Symbol, dass es den Italienhassern nicht gelingen werde, die Gesellschaft zu spalten.

Das alles ist nie passiert

Ein fiktives Beispiel, das nur auf den ersten Blick völlig irre erscheint. Denn natürlich geraten immer wieder Unschuldige in die Fänge der Mafia. Niemand käme dabei aber auf die Idee, alle Italiener unter Generalverdacht zu stellen. Und niemand würde es wagen, nicht die eigentlichen Opfer als solche zu bezeichnen, sondern vielmehr ganz Italien.

Diese Art von Täter-Opfer-Umkehr ist jedoch gängige Praxis, wenn es um den Islam geht. Nach jedem Anschlag durch Muslime werden dieselben abwegigen Floskeln abgespult. Der deutsche Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel warnte nach den Terrorakten von Paris davor, alle Muslime zu Gewalttätern oder Islamisten zu erklären. Auch Justizminister Heiko Maas warnte davor, „Muslime unter Generalverdacht“ zu stellen. Für Maas war das Attentat gegen die Redaktion von Charlie Hebdo vor allem ein „Anschlag gegen den Islam“ und seine Werte.

Der Satz „Das hat nichts mit dem Islam zu tun“, der nach jedem Attentat im Namen Allahs die Runde macht, ist inzwischen zum running gag der Islam-Debatte geworden.

Der Satz „Das hat nichts mit dem Islam zu tun“, der nach jedem Attentat im Namen Allahs die Runde macht, ist inzwischen zum running gag der Islam-Debatte geworden. Man kann lange nach ähnlichen Phrasen suchen, wenn mafiöse Schuldeneintreiber säumige Zahler unter die Erde befördern. Den Satz „Das hat nichts mit Italien zu tun“ bekommt man höchstens von enttäuschten Pauschaltouristen zu hören, die das Kleingedruckte im Sonderangebot für den Adria-Urlaub nicht gründlich genug gelesen haben. Insofern hat die Mafia dem Islam einiges voraus – zumindest diskurstheoretisch.

jeges2Im Falle des Islam, auf dessen Konto die allermeisten Terrorakte der Gegenwart gehen, spielt man weiterhin die Opferkarte. Reflexartig werden nach jedem Anschlag die Ursachen für die Gewalt im Westen, der Armut oder den Folgen der Kolonisation gesucht, dessen Leidtragende die Muslime seien. Seit „9/11“ geht das bereits so. Als sich der Staub der eingestürzten World Trade Center noch nicht ganz auf die Straßen New Yorks gelegt hatte, waren schon die ersten Intellektuellen zur Stelle, die zwar vordergründig zutiefst schockiert waren über die vielen Toten, aber die Terrorattacke als gerechte Strafe für Amerikas Außenpolitik empfanden.

„Wer Wind sät, wird Sturm ernten“ und „Von nichts kommt nichts“ lauteten zwei der beliebtesten Schnellanalysen vieler Hobby-Politologen nach „9/11“. Die Amis seien selbst daran schuld, wo sie sich doch überall in der Welt einmischen müssen und ganze Länder dem Erdboden gleichmachen. Ulrich Wickert etwa kommentierte den 11. September mit einem Vergleich des US-Präsidenten mit Osama bin Laden: „Bush ist kein Mörder und Terrorist. Aber die Denkstrukturen sind gleich.“ Roger Willemsen sah das „Erhabene“ und Karl-Heinz Stockhausen ein „Kunstwerk“, als die beiden Türme zu Boden gingen.

Nach dem islamischen Aufruhr wegen der Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung Jyllands Posten im September 2005 geißelte die deutsche Moralinstanz Günter Grass die Zeichnungen als „rechtsradikal, fremdenfeindlich und gezielte Provokation“. Zu den Mordversuchen durch radikale Muslime an den Cartoonisten fällt ihm bis heute nichts ein.

Die New York Times kommt zudem im Jänner 2015 in einem Leitartikel zu dem Schluss: „Am besten ist es für Redakteure und Gesellschaften insgesamt, am Ende danach zu urteilen, was geeignet – oder sicher – zu drucken ist.“ Mit anderen Worten: Wer einen dümmlichen Mohammed abbildet, ist selbst schuld an seinem baldigen Tod.

Wie man es auch dreht und wendet: Der Kotau des Westens vor dem friedlichen wie dem gewaltbereiten Islam geht unaufhaltsam weiter. Man hat nach den Anschlägen von Paris zwar die tatsächliche Gefahr, die vom Terrorismus ausgeht, endgültig verinnerlicht, vermeidet aber, die Ursachen dafür im Islam zu suchen. Stattdessen tut man weiterhin so, als habe der islamische Terror ausschließlich mit Armut, Chancenmangel und einem irgendwie aus dem Gleichgewicht geratenen Testosteronhaushalt zu tun.

Die Moral von der Geschicht’: Wenn man sich nur rechtzeitig bei den Tätern anbiedert, bleibt man am Ende vielleicht verschont. ◗

Oliver Jeges, geb. 1982, studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichte in Wien und absolvierte danach eine journalistische Ausbildung an der Axel-Springer-Akademie. Er lebt als Journalist und Autor in Berlin. Sein erstes Buch hieß Generation Maybe. Seine Artikel erschienen u. a. in Der Standard, Die Welt und Das jüdische Echo.

Bilder: © apa picturedesk

4 KOMMENTARE

  1. Lieber Herr Jeges,

    war und bin mit allem mehr als einverstanden, was Sie auf der „Achse“ geschrieben haben und schreiben und schenke Ihnen als Dank dafür – übrigens als Piefke – dieses Nestroy-Zitat als Lebensmotto:

    „Ha, Entsetzen!, Grausen! Schauderhaftigkeit! Rache,! Natur!, Entartung!, Famosität!, und o Jeges“ (Nestroy, Zampa)

  2. Lieber Herr Jeges,

    jaja, ich weiß, man soll keine Namenswitze machen
    aber ich sehe gerade, daß Nestroy den „Jeges“-Scherz mehrfach gemacht hat.
    Unter anderem in „Der Tod am Hochzeitstage“:

    STIXLMANN
    (kriecht außer sich vor Angst, hinter dem Busch hervor)
    Ich bin todt, das ist mein letztes End!
    (In höchster Desparation.)
    Das ist mein Ahndl g’west! Entsetzen! Athemlosigkeit,
    Familie, Entwartung, Kindskinder, Famosität, Natur
    und – o Jeges!
    Die Angst hat furchtbar auf mich gewirkt, mein
    Verstand ist aufgeklärt, ich red auf einmal ganz g’scheidt da-
    her, – aber die Sprach hat’s mir verschlagen.

    Wenn ich mich recht an meine lange zurückliegenden literturwissenschaftlichen Studien erinnere, ist das die rhetorische Figur der „Anti-Klimax“, also sozusagen vom Erhabenen zum Lächerlichen.

    Ihr dankbarer Leser Krischan P.

  3. Wieder ein beispiel für geistige dekadenz und degenerierung gewiesser schichten die sich für intelektuel halten wertloses gewäsch wie es viele von sich geben und dafür auch noch einen literaturpreis wollen

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