Erhebe nicht die Hand gegen den Jungen!

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Wer ihn als schmächtigen Sechsjährigen im KZ Buchenwald antraf, hätte sich wohl niemals vorstellen können, dass Israel Meir Lau einmal zum religiösen Oberhaupt des jüdischen Staates ernannt werden würde. Aber seine Familie hatte die Rabbinerlaufbahn für ihn vorgesehen, und so setzten er und sein Bruder alles daran, um diesen Auftrag zu erfüllen. Von Daniela Segenreich-Horsky 

Der Weg von der Tür bis zu Rabbiner Israel Laus Schreibtisch, hinter dem er würdevoll thront, ist lang, gerade lang genug, damit er die Eintretenden, die ein Gespräch mit ihm suchen, eingehend mustern und sich ein Bild von ihnen machen kann. Auf dem Schreibtisch steht das Foto des kleinen, blonden Jungen in der Uniform der Hitlerjugend, mit dem Koffer in der Hand und dem Gewehr um die Schulter: „Ich war sehr klein für mein Alter, und es gab damals nichts anderes in meiner Größe, also hat mir ein amerikanischer Soldat nach der Befreiung diese Uniform gegeben“, erklärt er dazu in einem Video auf  YouTube. Das Foto ist in vielen Publikationen zu finden, und der Koffer mit den wenigen Habseligkeiten war in dieser Zeit sein Zuhause und wurde später, als er bereits Familie und eine Wohnung hatte, zu einem wichtigen Erinnerungsstück.

„Warum müssen diese armen, bedauernswerten Menschen Schutz in Österreich oder Deutschland suchen?“

lau2Der Raum im Rabbinat von Tel Aviv ist nüchtern gehalten, nicht pompös – im Judentum gibt es bekanntlich keinen Papst, es gibt nur die beiden Oberrabbiner von Israel, einen sephardischen und einen aschkenasischen. Ein einflussreiches Amt, auch deswegen, weil in Israel das Rabbinat neben den religiösen Erlässen und Entscheidungen auch für wichtige zivilrechtliche Belange, wie Eheschließungen und Scheidungen, zuständig ist. Israel Meir Lau hat diesen Posten zehn Jahre lang innegehabt. Jetzt ist er beinahe achtzig und zum zweiten Mal Oberrabbiner von Tel Aviv, der größten jüdischen Gemeinde im Land. Sein Stundenplan ist voll, neben der täglichen Routine, wie Hochzeiten, Begräbnisse und Sitzungen, konsultieren ihn immer wieder hohe israelische Politiker vor wichtigen Entscheidungen. Und er hat oft Treffen mit den Großen der internationalen Politik, luncht mit Präsident Obama und Amr Moussa, dem vorigen Vorsitzenden der Arabischen Liga in New York, begleitet UNO-Generalsekretär Ban Ki-Moon auf dessen persönliche Bitte nach Auschwitz. Aber was diesen Mann so eindrucksvoll macht, ist nicht unbedingt sein Amt, sondern die Tatsache, dass er dieses Amt auf so souveräne Art bekleidet, obwohl er, als er mit acht Jahren nach Israel, damals noch Palästina, kam, weder schreiben noch lesen konnte. In Piotrków, einem polnischen „Schtetl“, geboren, sprach er nur Polnisch und war bis dahin niemals in einer Schule gewesen.

Lau hat nahezu seine gesamte Kindheit in Verstecken, Gettos und Konzentrationslagern verbracht. Mit knapp sechs Jahren wurde er in Buchenwald interniert. Der Großteil seiner Familie, darunter auch sein Vater und einer seiner Brüder, waren zu dem Zeitpunkt bereits tot, von seiner Mutter war er auf dramatische Weise am Bahnhof getrennt worden. Sie hatte ihn von sich weggestoßen, zu seinem bereits erwachsenen Bruder Naphtali, weil ihr plötzlich klar geworden war, dass die Frauen und Kinder kaum Überlebenschancen hatten, während die Männer vielleicht noch gebraucht würden. Sie hat Auschwitz-Birkenau nicht überlebt. Doch der kleine Israel und sein Bruder, dem sie aufgetragen hatte, auf den Kleinen aufzupassen, damit er die viele Generationen alte Familiendynastie der Rabbiner fortführen könne, haben es mit Hilfe vieler kleiner und größerer Wunder und Zufälle geschafft. Dank seines phänomenalen Gedächtnisses lernte Lau gut und schnell, wurde tatsächlich Rabbiner und ist heute stolzes Oberhaupt eines Familien-Clans mit drei Söhnen, fünf Töchtern und fünfzig Enkeln und Ur-Enkeln. Freunde der Familie beschreiben ihn, der seine Eltern so jung verloren hatte und ein Familienleben so viele Jahre lang entbehren musste, als liebenden Vater und Großvater und hervorragenden Familienmenschen. Und auch seine Karriere verlief steil aufwärts: Nach einigen Jahren in Netanja und seiner ersten Nominierung zum Oberrabiner von Tel Aviv, wurde er 1993 zum Oberrabbiner des Staates ernannt. Heute hält einer seiner Söhne, David Lau, dieses Amt inne, und auch seine beiden anderen Söhne sind Rabbiner.

Der Junge, der im KZ eine Rede hielt

Wenn er nicht Rabbiner geworden wäre, hätte er wohl Karriere als Komödiant gemacht, heißt es, sein Talent, andere zu imitieren, gibt er noch manchmal humorvoll beim Abendessen zum Besten. Sein Charme und das Lächeln, das auch jetzt noch beinahe ständig um seine Augen spielt, sind dem Rabbiner in 38. Generation wohl schon damals, als Kind, zu Gute gekommen. Immer wieder hat jemand ihm geholfen, ihn gegen Kälte und Gewehrkugeln geschützt, ihm etwas zu essen „organisiert“, wenn sein Bruder nicht bei ihm war. Und auch seine unglaubliche Sprachgewandtheit – er spricht druckreif, zitiert auswendig alle Fakten, Statistiken und Namen – hat ihm laut seiner Biografie Out of the Depths nach dem hebräischen Titel „Erhebe nicht deine Hand gegen den Jungen“ gleich nach seiner Ankunft in Buchenwald das Leben gerettet. Damals ging es darum, dass der Oberkommandant des Lagers die Kinder, die irgendwie mit hineingeschmuggelt worden waren, loswerden wollte. Israel Meir Lau, als Junge von allen liebevoll „Lulek“ genannt, war mit sechs Jahren sehr klein für sein Alter, also stellte er sich auf einen kleinen Erdhügel und hielt dem Kommandanten eine Rede, in der er ihm erklärte, dass die Kinder fähig wären zu arbeiten und dadurch noch einen Wert für ihn im Lager hatten. Diese Rede und eine Bestechung, die sein Bruder dem Befehlshaber zusteckte, taten ihre Wirkung, und Lulek und den anderen Kindern wurde eine Baracke im Lager zugewiesen.

Oberrabiner Israel Meir Lau gilt bis heute als begnadeter Redner, der auch immer wieder politische Geschehnisse kommentiert.

WINA: Herr Rabbiner, Sie waren ja selbst als Kind auf der Flucht – wie sehen Sie die Flüchtlingssituation in Europa und auch hier in Israel?

Rabbiner Lau: Diese Problematik ist ja nur eine Folge der Politik in der Region. Man muss sich dazu erst einmal ansehen: Was hat zu dieser Situation geführt, dass diese Menschen ihr Zuhause verlassen, flüchten und in Europa oder anderswo Zuflucht suchen müssen? Wir wissen zum Beispiel, dass Assad, der Bündnisse mit dem Iran und der Hisbollah geschlossen hat, in Syrien 300.000 Menschen aus seinem eigenen Volk ermordet hat. Wo ist da die Welt, die UNO, die jeden Schritt, den Israel macht, kritisiert und kommentiert, manchmal zu Recht, manchmal zu Unrecht, die UNO, die so groß von Solidarität, von Frieden spricht, während das alles jahrelang geschieht? Hier ist nicht von einem Wohnwagen auf irgendeinem Hügel in der Westbank die Rede, hier ist die Rede von einem Völkermord an hunderttausenden Menschen. Und das alles hat zu diesem enormen Flüchtlingsstrom geführt.

Und wo ist die Arabische Liga, Staaten wie Katar, die Geld und Waffen an die Hamas in Gaza liefern; warum gewähren sie ihren Glaubensbrüdern, die aus ihrer Heimat fliehen müssen, keine Zuflucht? Bahrain, Dubai, Saudi-Arabien, dieses riesige, reiche Land – wo sind sie? Warum müssen diese armen, bedauernswerten Menschen Schutz in Österreich oder Deutschland suchen? Das ist nicht ihre Kultur, ihre Sprache, die arabischen Länder sind ihnen spirituell und kulturell viel näher. Warum helfen sie nicht, warum gewährt ihnen da niemand Schutz?

Aber das kleine Israel, das schon seit siebzig Jahren ein Feind von Syrien ist, behandelt über tausend syrische Verwundete in israelischen Spitälern. Das alles ist eine völlig abnormale Situation! Ban Ki-Moon müsste mit den Führern der arabischen Länder sprechen und sagen: „Das sind eure Brüder, ihr müsst ihnen helfen!“

Wie sehen Sie das Iran-Problem, ist der Iran eine Bedrohung für Israel und das jüdische Volk, ähnlich der Bedrohung durch Nazi-Deutschland?

❙ Auch Obama sagt, das wäre eine Bedrohung nicht nur für Israel, sondern für die ganze Welt. Und obwohl ich diese Bedrohung verstehe, wenn auch nicht in allen technischen Details, lasse ich nicht zu, dass sie mit der Schoah verglichen wird. Auch deswegen, weil wir heute einen Staat, eine Armee, einen Geheimdienst haben, unsere Situa­tion ist nicht vergleichbar mit dem, was vor 75 Jahren war. Ich war in Hiroshima, ich habe gesehen, welche Auswirkung die Atombombe noch heute auf die Menschen hat. Man muss so eine Situation mit allen Mitteln verhindern, aber gleichzeitig darf man die Dinge nicht gleichstellen.

In Israel gilt noch immer die Teilung von Staat und Religion, das wird immer öfter von säkularen Juden, die beispielsweise gerne eine Art standesamtliche Heirat hätten, kritisiert. Viele finden auch eine Alternative in Reformbewegungen, die versuchen, das Judentum der Zeit anzupassen. Wie sehen Sie die Zukunft für das Judentum und die Orthodoxie?

❙ Reformjudentum ist nichts Neues, aber mich interessiert nur das Ergebnis: Es gibt da eine amerikanische Studie aus den Neunzigerjahren, die überprüft hat, wie viele Nachkommen in den Hauptströmungen des Judentums – streng Orthodoxe, modern Orthodoxe, Konservative, Reformjuden und Säkulare – in der vierten Generation jeweils noch jüdisch sind. In der Kontrollgruppe der Reformjuden bleiben nach vier Generationen von hundert nur dreizehn Juden, während bei den Orthodoxen von hundert über achthundert der Nachkommen weiterhin jüdisch sind, bei den Strengreligiösen sind es sogar über zweieinhalbtausend. Wir sind das einzige der alten Völker, das es noch gibt, und das Judentum ist die Basis unseres Staates. Damit ist die Antwort wohl klar – wir wollen doch nicht Selbstmord begehen!

Bild: © Flash 90

1 KOMMENTAR

  1. Liebe Frau Kaldori,

    Ihre Zeitung schätze ich sehr und das Interview mit Rabbi Lau („Erhebe nicht deine Hand …“) finde ich interessant. Doch in einem Punkt muss ich etwas klarstellen.
    Sein Satz zum „Selbstmord durch das Reformjudentum“ und dessen Begründung ist unerträglich unsinnig und verleumderisch.
    Es ist die altbekannte Strategie mancher Orthodoxer alle nichtorthodox religiösen Strömungen (heute Main Stream im Judentum) zu delegitimieren.
    Dabei bezieht er sich auf eine alte, dubiose Studie, von Richard Horowitz (Aish ha-Torah), die angeblich zeigt, dass Reformjudentum mit „Selbstmord“ gleich zu setzen ist.
    Diese Studie ist aus mehreren Gründen unsinnig und nicht aussagekräftig: 1. Sie wurde von orthodoxer Seite durchgeführt und interpretiert, klarerweise um bewusst das Reformjudentum zu delegitimieren (vorgefasste Meinung) 2. Jede Studie – und das gilt auch für medizinische Studien – muss immer von unabhängiger Seite überprüft werden, um ihre Qualität zu bestätigen, was nie geschah 3. Da weltweit die Mehrzahl der Giurim heute entweder reform oder koservativ erfolgen, doch diese seitens der Orthodoxie nicht anerkannt werden, wundert es nicht, dass Menschen, die eindeutig Juden sind, nicht als solche in die Statistik einfliessen. In dieser Studie lässt man auch bewusst ausser acht, dass orthodoxe Menschen sehr viel mehr Kinder haben als säkulare oder Reformjuden. Daher muss ich gegen diese Form der Hetze gegen das nichtorthodox-religiöse Judentum scharf protestieren.

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