„Eine Sprache finden, die das Kind versteht“

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Er musste als Kind aus Wien vor den Nationalsozialisten fliehen und wurde Kinder­psychiater in der Schweiz: Heinz-Stefan Herzka warnt vor den Folgen der Flucht für betroffene Kinder und erzählt über die Aufgaben von Eltern in der Erziehung.

Text & Foto: Itamar Treves-Tchelet   

Ich bin irgendwo mit meiner Frau oder einem Bekannten. Dann entferne ich mich. Die Landschaft, meine Stadt, wird immer fremder, und ich finde den Rückweg nicht mehr.“ Es ist eine Weile her, seitdem der Kinderpsychiater Heinz-Stefan Herzka aus Zürich diesen immer wiederkehrenden Traum hatte. Jetzt wieder. Die Schicksale der Flüchtlinge, erzählt er, reaktivieren bei ihm seine eigene Geschichte.

„Ich habe den Eindruck, die Gesellschaft hat von den früheren Schicksalen sehr, sehr wenig gelernt.“ Heinz-Stefan Herzka

Diese beginnt 1938, einige Monate nach dem „Anschluss“. Herzka war drei Jahre alt, als er mit seinen Eltern Wien verlassen musste. Knapp bevor die Grenzen in den Westen dichtgemacht wurden, durfte die Familie mit 7.000 anderen Menschen mit „J“ gestempelten Reisedokumenten in die Schweiz einreisen. Bis 1945 sollte sich diese Zahl verdreifachen.

Angekommen in der Gemeinde Amden bei St. Gallen, verstanden die Eltern, dass sie nicht mehr zurück nach Österreich können. Vater Hans war Angestellter bei einem Goldwarenhändler gewesen. Mutter Else war eine Psychologin, die Kontakte mit Alfred Adler, Viktor Frankl und C.G. Jung pflegte. Arbeiten durften sie als Staatenlose nicht. Zudem mussten sie in den kommenden Kriegsjahren mehrmals ihren Aufenthaltsort wechseln, um einer Ausweisung zu entkommen. „Es war eine gefährliche Situation“, erinnert sich Herzka, der schon im jungen Alter diese komplexe Realität verstand.

2007 veröffentlichte er seine Autobiografie, in der er diese Zeit allerdings als „Emigration“ definiert. Keine Flucht. „Ich habe eigentlich nie ein wirklich negatives Fremdheitserlebnis gehabt“, sagt er. Dies hat er seinen Eltern zu verdanken: „Sie waren beide sehr selbstständige Menschen. Man war vor allem selber jemand und nicht sehr abhängig von Anerkennung oder sozialem Aufstieg. Es war ein Wert in sich, dem Leben einen Sinn zu geben, eine sinnvolle Arbeit zu machen und seinen Freundeskreis zu haben. Beide haben immer von einer späten, aber rechtzeitigen Emigration gesprochen.“

Der Eindruck, dass er als Fremder einen Platz in der Gesellschaft hatte, begleitete ihn Jahre später bis hin zu seiner Einbürgerung 1956 und danach durch seine Karriere als Kinderpsychiater und Universitätsprofessor in Zürich.

Trauma über Generationen

Besorgniserregender sieht er die Flüchtlingssituation von heute. „Es macht mir sehr zu schaffen“, sagt er, „ich habe den Eindruck, die Gesellschaft hat von den früheren Schicksalen sehr, sehr wenig gelernt.“ Damit bezieht er sich auf die heutige abweisende Haltung der Staaten, in denen die Flüchtlinge ankommen. Die europäische Migrationspolitik, vor allem Kindern gegenüber, sei kontraproduktiv. „Die Unsicherheit, der die Kinder auf dem langen Fluchtweg und auch noch im Aufnahmeland ausgesetzt sind – die Frage, ob sie zurückgeschickt werden oder nicht, bedeuten eine permanente Schädigung der kindlichen Entwicklung. Von einem kinderärztlich-kinderpsychiatrischen Standpunkt aus ist dies nicht zulässig“, erklärt Herzka.

Diese Kinder hätten somit das hohe Risiko, psychisch-seelisch destabilisiert zu werden. Die späteren Symptome reichen dann von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, darunter Schmerzzustände, bis hin zu Aggressionen oder Radikalisierungstendenzen. „Das sind alles Symptome, die eine Folge von chronischen Spannungen sind“, sagt er und ergänzt: „Es ist eine seelische Verletzung, die über drei Generation geht. Der Verlust der sozialen Geborgenheit der Menschen, die fliehen mussten, überträgt sich auf ihre Kinder und spielt in die Erziehung der dritten Generation hinein.“

Wer hier die große Verantwortung trägt, den Kindern diese Situation zu erleichtern, sind vor allem die Eltern. „Kinder leben in zwei Welten und erleben diese auch, sie können das“, sagt Herzka, „die Eltern bleiben aber in der Regel in ihrer Herkunftskultur verhaftet. Sie können aber im besten Fall ihre Kinder ermutigen und dabei unterstützen, die Umgebungskultur aufzunehmen. Es ist für sie aber eine schwierige Erfahrung, wenn die Kinder sich von ihnen entfremden. Sehr schmerzhaft wird es in einem Land, das nicht wie Israel oder Amerika ein Einwanderungsland ist und eine gemeinsame Einwandereridentität anbietet.“

Diese Situation wird für Kinder ebenfalls sehr komplex, meint er. Denn viele erleben innere Konflikte, vor allem wenn es um Wertvorstellungen geht, zwischen dem, was von ihnen zuhause erwartet wird, und dem, was landesüblich ist. „Viele können switchen. Die, die das nicht schaffen, entwickeln dann entweder Ängste oder Aggressionen und haben natürlich im schulischen oder beruflichen Bereich Probleme.“

Im Verlauf von mehr als 50 Jahren hat Heinz Herzka zahllose Kinder, Jugendliche und deren Familien aus unterschiedlichsten Hintergründen behandelt. Als Universitätsprofessor schrieb er mehrere Publikationen über die Entwicklung von Kindern zwischen Kulturen. Unter Kollegen wird er „der Sozialpsychiater unter den Kinderpsychiatern“ genannt. Also einer, der bei seinen Patienten auf ihre Kulturverständnisse, Religion und Glaube sensibilisiert ist. Dies bringt er auch wöchentlich den jüngeren Psychologen nahe, die zu ihm zur professionellen Beratung (Supervision) mit konkreten Fällen aus ihrer eigenen Praxis kommen.

Dass Kinder und Jugendliche in der Vergangenheit komplett andere Konflikte hatten als jene von heute, glaubt er nicht. „Die Grundprobleme und Fragen sind immer die gleichen: Freundschaft, Liebe, Ängste bewältigen, dem Leben einen Sinn geben. Die Antworten, die ändern sich vielleicht.“

Einen großen Unterschied sieht er dennoch: „Die neue Generation ist viel früher und viel umfassender informiert. Man weiß mit 11, 12 Jahren Sachen, die man früher vielleicht mit 17 oder 18 gewusst hat. z. B. über Sexualität.“ Verantwortlich dafür seien die neuen Medien und die Medienflut, der Kinder heutzutage ausgesetzt sind. „Zum Teil ist dies eine brutale Konfrontation mit der realen Welt, bei der das Kind Begleitung braucht“, sagt er, aber kein „Schonraum“.  Primär sei es also wiederum Aufgabe der Eltern, ihre Kinder in die Welt, wie sie ist, einzuführen, sagt er. Mit dieser Einführung heißt es, die Kinder seelisch zu unterstützen, mit ihnen Werturteile zu diskutieren und Meinungen auszutauschen. Oder in Heinz Herzkas eigenen Worten: „Eine Sprache zu finden, die das Kind versteht.“

Prof. Heinz-Stefan Herzka, geb. 1935 in Wien, musste 1938 mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten in die Schweiz flüchten. Er studierte Medizin in Zürich und arbeitet bis heute als Kinder- und Jugendpsychiater in der Schweiz. Als Professor für die Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Zürich veröffentlichte er zahlreiche Bücher und Publikationen. In seiner Freizeit geht er mit seiner Frau Verena den Spuren der Schalmeien nach. Die Leidenschaft für dieses Instrument brachte ihn dazu, die ganze Welt zu bereisen. Seine beachtliche private Schalmeiensammlung wird im Musée des Instruments in Céret, Südfrankreich, ausgestellt.
herzkaprof.ch

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