„Wir sind wachsam, aber nicht ängstlich“

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Die jüdische Gemeinde in Amsterdam beklagt jenen Antisemitismus, der sich hinter antizionistischen Parolen versteckt. Ein Lokalaugenschein von Marta S. Halpert.

Die Mittagssonne spiegelt sich silbern in der Amstel. Sie lädt zu einer entspannten Bootsfahrt ein oder animiert zu einem kühlen Bier in einem der vielen Gastgärten entlang der Grachten. Dennoch haben an die zweihundert Touristen in Amsterdam in dieser unbeschwerten Mittagsstunde eine andere Destination gewählt. In einer unüberschaubaren langen Schlange stehen sie geduldig an: Sie möchten alle das Anne-Frank-Haus besichtigen.

„Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch wohl vorbeigehen, einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein.“ Anne Frank

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Kleid mit Judenstern im Joods Historisch Museum

Ungewöhnlich ruhig ist es im Haus selbst, als ob diese Menschen aus aller Welt und in den verschiedensten Altersgruppen hier erstarren würden. Zwei japanische Mädchen halten sich an der Hand und stehen im dunklen, leeren Zimmer, dem Versteck, das Anne Frank zwei Jahre lang bewohnte. Nur an den bräunlich verfärbten Wänden hängen ein paar Filmhefte: Mit den Fotos ihrer Lieblingsschauspieler und Filmstars schuf sie sich eine illusorische Welt in der Finsternis. Ein spanisches und ein türkisches Paar quälen sich hinter dem schwenkbaren Aktenschrank über die schmale Holztreppe nach oben, um in das Versteck im Hinterhaus zu gelangen. Acht jüdische Menschen waren hier vom 6. Juli 1942 bis zum Verrat und ihrer Verhaftung am 4. August 1944 versteckt, während im Vorderhaus und im Lagerraum gearbeitet wurde. Einen Monat später werden alle in die Vernichtungslager deportiert; nur Otto Frank, der Vater von Margot und Anne, überlebt und kehrt am 3. Juni 1945 nach Amsterdam zurück.

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Joods Historisch Museum zeigt Kunst, Kult und Geschichte: aus der Sammlung Charlotte Salomon

Die Stimmung unter den Besuchern ist für den typischen Touristen äußerst ungewöhnlich: Es ist bemerkenswert still, es wird nicht geredet, höchstens im Flüsterton auf etwas gezeigt. Und es wird weder getrunken noch gegessen. Echte Beklommenheit beschwert die Luft jener Räume, in denen Anne Frank kaum Luft zum Leben hatte. Am 12. Juni wäre sie 87 Jahre geworden, und ihr größter Wunsch war es gewesen, eine berühmte Schriftstellerin zu werden. Dass sie wegen ihres Tagebuches weltweit zum „bekanntesten Opfer“ der Schoah wurde, ist wahrlich keine Jubelmeldung. Der Erfolg ihres Tagebuches, das sie mit 13 Jahren zu schreiben begann, ist trotzdem beeindruckend: in 70 Sprachen übersetzt und in mehr als 60 Ländern veröffentlicht. Etwa 30 Millionen Exemplare wurden verkauft; es wurde mehrfach verfilmt, jüngst erst in Deutschland wieder. 2009 wurde das Tagebuch von der UNESCO in das Weltdokumentenerbe aufgenommen. Von all dem hat die in Bergen-Belsen ermordete Jugendliche nichts mehr: Vier Monate vor ihrer Verhaftung durch den österreichischen SS-Oberscharführer im Sicherheitsdienst (SD) Karl Josef Silberbauer* schrieb sie ihr hoffnungsvolles Motto nieder: Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch wohl vorbeigehen, einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein.

Der Mokum – ein guter Platz für Juden
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Interieur der Portugiesischen Synagoge

Nicht einmal die Frühlingsluft hilft: Es fällt schwer, sich von der bedrückenden Geschichte der Anne Frank zu befreien, insbesondere wenn man bedenkt, dass in den 1940er-Jahren rund 140.000 Juden in den Niederlanden lebten. Heute sind es um die 50.000, nachdem in der Schoah 75 Prozent der holländischen Juden ermordet wurden.

Aber die jüdische Geschichte Amsterdams, wo heute etwa 15.000 Juden leben, reicht viel weiter zurück. Wenige Stadtbummler, aber auch Einheimische, die sich im Café Mokum gegenüber dem Waaghaus eine Pause gönnen, wissen, woher der Name des Lokals herrührt. Mokum (hebräisch: Makom) bedeutet „Platz“ auf Jiddisch und bezeichnete die Stadt als „guten Platz für Juden“ – und das bereits seit dem 16. Jahrhundert. Für die flüchtenden Juden aus Spanien und Portugal wird Amsterdam zum sicheren Hafen. Kahal Kadosh Talmud Tora nennt sich 1639 die erste und älteste jüdische Gemeinde in den Niederlanden. Die ersten Juden, die nach Amsterdam ziehen, sind portugiesische Händler, die zuerst in ihrer Heimat von der Inquisition bedroht wurden. Den ersten Zufluchtsort Antwerpen müssen spanische und portugiesische Juden verlassen, als die Stadt unter spanische Herrschaft kommt.

„Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch wohl vorbeigehen, einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein.“ Anne Frank

Iván Fischer dirigiert das Royal Concertgebouw Orchestra
Iván Fischer dirigiert das Royal Concertgebouw Orchestra

Amsterdam freute sich über diese Einwanderer, denn sie beflügelten auch den Handel mit den portugiesischen Kolonien in der Karibik. Nach der Unabhängigkeit der Niederlande und deren europaweit erstem Gesetz der Gewissensfreiheit, fühlten sich auch die Juden, die teilweise schon getauft waren, zunehmend sicherer und kehrten offen zu ihrer Religion und Kultur zurück.

Aber nicht nur Sephardim finden in Amsterdam eine neue Heimat: Ab der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts retten sich viele Polen und Russen vor den antijüdischen Pogromen hierher, sodass die aschkenasische Gemeinde schließlich größer wird als die portugiesische. Auch heute ist das noch so: In Amsterdam leben etwa 270 sephardische Familien, das sind rund 600 Personen, also nur zwei Prozent der holländisch-jüdischen Gemeinschaft. Dennoch besitzt dieser Teil der jüdischen Bevölkerung die größte und schönste Synagoge der Stadt. Am 2. August 1675 wurde dieses imposante Gotteshaus eingeweiht.

Betritt man die Esnoga, die auf wundersame Weise während der deutschen Besatzung nicht beschädigt wurde, so befindet man sich auf einer Zeitreise: Es gibt kein elektrisches Licht. Zwei Meter hohe Leuchter werden am Schabbat und an den Feiertagen mit passenden Riesenkerzen bestückt, und man sollte mit dem Beten fertig sein, bevor diese niederbrennen. Die hölzerne Bundeslade ist von schlichter Eleganz, ebenso wie der gesamte imposante Innenraum.

Aber der Synagogen-Komplex hat noch mehr zu bieten: Die älteste noch aktive Bibliothek Ez Chaim-Livreria Mintezino ist hier ebenso zu finden wie die Mikwah und der Tahara-Raum, die hier nicht mehr genutzt werden. Eine kleine unterirdische Ausstellung zeigt die kostbaren Brokatgewänder, die männliche und weibliche Sephardim trugen, sowie wertvolle Ritualgegenstände aus Silber und Gold. Bereits vier Tage nach der Befreiung der Niederlande, am 9. Mai 1945, wurde der Gottesdienst in der Esnoga wieder aufgenommen.

Im Jewish Cultural Qarter steht nicht nur die Portugiesische Synagoge, sondern auch das Jüdische Historische Museum, das seit 1932 existiert. Seit 1987 befindet sich das Museum in einem Komplex von vier ehemaligen aschkenasischen Synagogen, die im Zeitraum von 1671 bis 1752 erbaut wurden. Zum Museumsbestand zählen auch hier Objekte aus dem Alltag des religiösen Lebens, aber auch zahlreiche Kunstgegenstände – aus der Vergangenheit und Gegenwart. Ein großer Raum widmet sich der Geschichte der Juden in den Niederlanden von 1600 bis heute; temporäre Ausstellungen werden in kleineren Abteilungen gezeigt, wie z. B. das Prentenkabinet, wo speziell für die Sammlung Leben und Theater der jüdischen Malerin Charlotte Salomon, die in Berlin geboren und in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde, ein Bereich geschaffen wurde.

Im integrierten Kindermuseum, das wie ein Familienhaus konzipiert ist, wo man koscher kocht oder gemeinsam Musik macht, kann man sich ein wenig von der Schwere der Geschichte erholen. Denn der vierte Teil des Jüdischen Quartiers widmet sich erneut einem der traurigsten Kapitel der Stadtgeschichte.

Die Hollandsche Schouwburg war ursprünglich ein wichtiges Theater auf einer hübschen Allee in Amsterdam. Die Nazis besetzten das Haus und machten es zu einer Sammel- und Deportationsstelle für die Amsterdamer Juden. Hier mussten sie oft Wochen von der Außenwelt abgeschieden warten, bis sie aus der Stadt in die niederländischen Durchgangslager Westerbork und Vught transportiert wurden. Von da gingen die Züge in die diversen Vernichtungslager. Heute fungiert die Schouwburg als Gedenkstätte inklusive einer kleinen Ausstellung und als Ort des Dialogs.

Wachsam, aber nicht ängstlich

Diesen Dialog befördert auch Ron van der Wieken, der Vorsitzende der Centraal Joods Overleg, des Zentralrats der Juden in den Niederlanden. Schließlich muss er drei jüdische Gruppierungen zusammenhalten: die Orthodoxen, sowohl aschkenasisch als auch sephardisch, die Reformgemeinde und die aktive Chabad-Bewegung. Aber auch WIZO, B’nai Brith und zahlreiche Jugendorganisation sind gut vertreten: Mehr als 500 jüdische Kinder besuchen Sommer- oder Wintercamps; es gibt drei vollwertige jüdische Schulen sowie Institutionen für Ältere und auch jüdische Spitäler, darüber hinaus einen jüdische Radiosender und eine Wochenzeitung.

„Die dramatischen Ereignisse in Paris und Brüssel haben uns natürlich schockiert und sehr betroffen gemacht“, erzählt Ron van der Wieken, „daher sind wir noch wachsamer geworden, aber nicht ängstlich.“ Die Sicherheitsmaßnahmen für jüdische Institutionen sind ähnlich wie in anderen europäischen Ländern hochgefahren worden. „Die Regierung ist dabei ein sehr kooperativer Partner“, weiß der Vorsitzende des Zentralrats. 96 Personen, die höchste Zahl seit zehn Jahren, gingen 2015 auf Alija; trotzdem sind das nur 0,2 Prozent der jüdischen Bevölkerung in den Niederlanden.

Sorgen machen Ron van der Wieken nicht die Flüchtlinge des Jahres 2015, sondern die türkischen und marokkanischen Muslime, die schon seit Langem in Holland leben. „Auch wenn die Zahl der angezeigten antisemitischen Vorfälle 2015 im Vergleich zu 2014 um 26 Prozent zurückgegangen ist, verstecken viele ihren Antisemitismus hinter antizionistischer Kritik.“ Besonders die Medien hätten Israel ständig im Fokus ihrer Angriffe, was auch zur Besorgnis erregenden Stimmung beitrage. Erst in diesen Tagen habe das Netherland’s Israel Information Centre CIDI eine Klage gegen Fans des Fußballklubs PSV Eindhoven eingebracht, weil diese ein Video mit antisemitischen Liedern veröffentlich hatten.

Viele Niederländer zeigten während der Schoah ein sehr ambivalentes Verhältnis zu ihrer jüdischen Bevölkerung: Es gab zahlreiche Menschen im Widerstand und unter den Yad-Vashem-Gerechten: Bisher wurden 5.400 Holländer ausgezeichnet, in Österreich knapp 100. Aber es gab auch viele Kollaborateure und Verräter.

Will man die tiefgreifenden Eindrücke aus dem Anne-Frank-Haus sowie die beruhigende Stimmung aus der Portugiesischen Synagoge miteinander verschränken, dann hilft das Jüdische Kulturfestival in Amsterdam oder ein Besuch beim weltberühmten niederländischen Royal Concertgebouw Orchestra. Denn hier steht ein Brückenbauer am Dirigentenpult: Der ungarisch-jüdische Musiker Iván Fischer erklärt fließend in Holländisch die Faszination der 1. Symphonie von Johannes Brahms nach Motiven von Josef Haydn.

* Im April 1945 kehrte Silberbauer nach Wien zurück, wo er vierzehn Monate lang im Gefängnis saß. 1954 wurde er wieder in die Wiener Polizei aufgenommen. Simon Wiesenthal konnte ihn 1963 aufspüren: Silberbauer bestätigte die Verhaftung Anne Franks. Ein gegen ihn eröffnetes Verfahren wurde aber 1964 eingestellt, da er auf Befehl gehandelt hatte. Silberbauer verstarb 1972.

Bilder: © Reinhard Engel

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