Wunder des Schneeschuhs?

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Oberhalb der Talstation der Galzigbahn in St. Anton, nur ein paar Schritte neben der Skipiste, erinnert das Skimuseum in der Villa Trier an die Geburt des modernen Skisports, der bis heute mit dem Namen Hannes Schneider und mit der von ihm in die Welt getragenen „Arlberg-Technik“ verbunden ist. Und mit Rudolf Gomperz, dem WienerIngenieur, der sich 1905 in St. Anton niedergelassen und sein Leben dem Skisport gewidmet hat. Von Hanno Loewy

Im Winter 1898/99 beobachtete ein achtjähriger Bub im Vorarlberger Ort Stuben einen Skifahrer bei seinen seltsamen Übungen. Viktor Sohm, Skipionier aus Dornbirn, gehörte zu den Ersten, die die aus Norwegen eingeführten Skier nicht einfach benutzten, um sich im Schnee querfeldein zu bewegen, sondern Gefallen daran fanden, die Geschwindigkeit bei der Abfahrt auszukosten. Der norwegische Telemarkstil und der auf ihm beruhende „Kristiana-Bogen“ wurden in den ersten Skischulen in Davos und im französischen Mégève gelehrt. In Kitzbühel arbeiteten die ersten Skilehrer. Und in Österreich herrschte die Schule von Mathias Zdarsky und seiner „Lilienfelder Skilauf-Technik“, einem in V-Stellung gefahrenen „Stemmbogen“ mit einem Stock.

Der Bub hieß Johann Baptist Schneider und beobachtete den 29-jährigen Sohm mit großen Augen. Es gab ein kurzes Gespräch, das Folgen hatte: Schneider nahm heimlich Maß an den Skiern und überredete den Stubener Schlittenbauer Mathies, ihm auch ein Paar Skier anzufertigen. Er begann, jede Piste hinunterzufahren, die er finden konnte. In den darauffolgenden Jahren wurde er Sohms Schüler, und schließlich muss er auch mit den Versuchen von Oberst Georg Bilgeri, dem zweiten großen Skipionier aus Vorarlberg, bekannt geworden sein, der eine tiefere Körperhaltung in einer Hocke ausprobierte und den Stemmbogen Zdarskys mit zwei Stöcken fuhr. Für Davos startend, gewann Schneider 1910 und 1911 die Schweizer Skimeisterschaften in der Abfahrt.

Rudolf Gomperz hatte sich 1905 in St. Anton niedergelassen

Neben einer Beteiligung an einem kleinen gewerblichen Unternehmen engagierte er sich in den nächsten Jahren vor allem für den aufstrebenden Österreichischen Skiverband (ÖSV), dessen Vorsitz er 1908 übernahm. 1910 wechselte er an die Spitze des Mitteleuropäischen Skiverbands, blieb jedoch Geschäftsführer des ÖSV. Gomperz reiste unermüdlich, hielt Vorträge, um den Skisport zu propagieren, und steckte sein Geld in die Arbeit der Skiverbände. Er organisierte Spenden für die ersten Investitionen in die Infrastruktur von St. Anton, die erste Sprungschanze, den Eisplatz, die Rodelbahn. Während des Ersten Weltkriegs meldete er sich freiwillig, um gemeinsam mit Oberst Bilgeri in Salzburg eine Skiwerkstätte für das österreichische und deutsche Heer aufzubauen. Mit dem Kriegseintritt Italiens auf der Seite der Entente wurde daraus eine regelrechte Fabrik für die Belieferung der Front in den Südostalpen.

Rudolf Gomperz organisierte Spenden für die ersten Investitionen in die Infrastruktur von St. Anton, die erste Sprungschanze, den Eisplatz,
die Rodelbahn.

Hannes Schneider überlebte den Krieg an der Front in den Dolomiten
Bald danach begann er gemeinsam mit Arnold Fanck, das Skifahren medial auf eine bis dahin ungekannte Art und Weise populär zu machen. 1920 gründete Fanck die Freiburger Berg- und Sportfilm GmbH und bereitete sein erste große Filmproduktion vor: Das Wunder des Schneeschuhs. Der Film wurde ein Erfolg und begründete das neue Filmgenre des Bergfilms. Es folgten in kurzer Zeit sieben weitere Filme mit Hannes Schneider, darunter 1926 Der heilige Berg, dessen Außenaufnahmen Helmar Lerski mit seiner revolutionären Lichttechnik beisteuerte. 1925 veröffentlichten Schneider und Fanck ihr gemeinsames Buch Wunder des Schneeschuhs – ein System des richtigen Skilaufens und seiner Anwendung im alpinen Geländelauf im Hamburger Verlag Gebrüder Enoch. Verleger Kurt Enoch entstammte einem liberalen jüdischen Elternhaus und war für Experimente aufgeschlossen wie wenige andere. Und dieses Buch war ein unternehmerisches Wagnis. Selbst passionierter Wintersportler, ließ Enoch weitere alpine Bücher folgen, darunter zwei Bände mit kinematografischen Reihenbildern von Hans Schneeberger/Dr. Baader (Sprunglauf, Langlauf, 1926) und Arnold Fanck (Das Bilderbuch des Skiläufers, 1931). 1931 feierten Schneider und Fanck noch einmal einen gemeinsamen Kinoerfolg: Die Komödie Der weiße Rausch – neue Wunder des Schneeschuhs wurde die beste denkbare Werbung für den Fremdenverkehr in St. Anton. In Österreich kam der Film unter dem Titel Sonne über dem Arlberg in die Kinos.
Beginn des Vorarlberger Tourismus
1926 nahmen Gomperz und Schneider ihre Zusammenarbeit aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wieder auf. Schneider hatte bereits 1922 neben einer Skischule auch ein Sporthaus eröffnet. Gomperz hingegen hatte nach dem Krieg durch die Inflation den Rest seines Vermögens verloren und arbeitete als Prokurist in einer Münchner Firma. 1931 legte er einen großen Teil seiner Ämter nieder, um sich dem Projekt der Galzigbahn zu widmen. Im Skiclub Arlberg wurde er im Jahresbericht dieses Jahres mit den Worten gefeiert: „Wir hoffen, dass Vater Gomperz dem Club auch weiterhin gewogen und dem Arlberg noch lange erhalten bleiben möge. Ski-Heil!“ Er empfing die eine oder andere Auszeichnung, zuletzt die Ehrenmitgliedschaft des Verkehrsvereins. Doch 1934 war er finanziell gezwungen, wieder in ein Dienstverhältnis einzutreten. Er übernahm das Büro des Verkehrsvereins in St. Anton – mit einem Gehalt, das kaum zum Überleben der Familie reichte. Nun ging es darum, den Tourismus unter den widrigen Bedingungen zu retten, die seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland herrschten.

Hannes Schneider war kein Mann der Schrift. Das Schreiben überließ er seinem Freund Gomperz – so auch 1930, als er seine legendär gewordene Reise nach Japan in dem Buch Auf Schi in Japan dokumentierte. Die Wunder des Schneeschuhs waren auch in japanischer Übersetzung erschienen, und die Tamagawa Universität in Tokio hatte Schneider eingeladen, die „Arlberg-Technik“ auch in Japan zu verbreiten. In fünf Wochen absolvierte Schneider 20 Vorträge, sechs Skikurse und drei Radiosendungen, ein Abenteuer, von dem er stolz zurückkehrte. Während Gomperz mit seinem Organisationstalent die Bedingungen für Schneiders Erfolg verbesserte, stand dieser als charismatischer Selbstdarsteller im Vordergrund.

Doch die beiden waren sich keineswegs immer einig. Sie stritten etwa über die Galzigbahn, deren Bau Gomperz, der sich für moderne Verkehrsmittel stark machte, propagierte. So setzte er beispielsweise auch den Motorschlittenverkehr hinauf nach St. Christoph durch. Doch seine Forderung nach einer Seilbahn auf den Galzig stieß auf Widerstand. Schneider befürchtete das Ende der Skischule, die Politik fürchtete das finanzielle Risiko.

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Bereits 1933 erfuhr Gomperz, was ihn und seine Familie bei einem möglichen „Anschluss“ Österreichs an Deutschland erwarten würde, doch der Ausschluss aus dem Deutschen Skiverband (DSV) in diesem Jahr war nur der Beginn der Erniedrigungen. „Ich persönlich kenne Sie lange Jahre“, schrieb ihm der „Führer des DSV“, Josef Maier, am 22. September 1933 anlässlich des Rauswurfs mit zweideutig lobenden Worten, „und weiß, in welch uneigennütziger Weise Sie Opfer um Opfer für den DSV gebracht haben. […] es ist eine Tragik, dass die derzeitige Entwicklung in Deutschland Sie als Mensch so schwer trifft.“

Das Ende einer Ära

1936 zwang ihn ein Unfall, monatelang im Gipsverband ins Büro zu kommen; und als 1937 die Galzigbahn tatsächlich rea-lisiert wurde, stand Gomperz, wie Hans Thöni in seiner Biografie Hannes Schneider. Zum 100 Geburtstag des Skipioniers und Begründers der Arlberg-Technik (1990) schreibt, „still im Hintergrund“.

In den Morgenstunden des 13. März 1938 wird Hannes Schneider verhaftet und gemeinsam mit fünf anderen politischen Häftlingen in das Gefängnis von Landeck verbracht. Seine Verhaftung ruft Proteste in St. Anton hervor, und auch aus dem Ausland wird interveniert, nicht zuletzt von Arnold Lunn, dem britischen Skiverbandspionier, der 1927 mit Schneider das Arlberg-Kandahar-Rennen ins Leben gerufen hatte. Am 6. April wird Schneider freigelassen, darf aber nicht nach St. Anton zurückkehren. Im Oktober schießt sich die SS-Wochenzeitung Das Schwarze Korps auf ihn ein. In einem Hetzartikel vom 27. Oktober 1938 unter der Überschrift Der Fall Hannes Schneider wird auch der „eingewanderte Ghetto-Jude Rudolf Gomperz“ aufs Korn genommen. Gemeinsam hätten sie eine „wahre Schreckensherrschaft“ errichtet und Schneider „diese Gewalt wie ein beutegieriger Jude ausgeübt“. Noch versucht sich Schneider zu wehren, schreibt am 14. November gemeinsam mit Rechtsanwalt Rösen einen Brief an Himmler, der die Vorwürfe entkräften soll. Doch zeichnet sich zu diesem Zeitpunkt schon ein anderer Weg für ihn ab: Seit 1936 leitet sein Schüler Benno Rybicka eine Zweigstelle der Hannes-Schneider-Skischule im amerikanischen New Hampshire, wo in North Conway am Mt. Cranmore ein bedeutendes Skigebiet entsteht. Im Januar 1939 teilt Hannes Schneider seiner Familie in St. Anton mit, dass man sich in Paris treffen werde, um auf große Reise zu gehen. Am 9. Februar kommt er gemeinsam mit seiner Familie auf der „Queen Mary“ in New York an.

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Rudolf Gomperz reibt sich bis 1938 für das wirtschaftliche Überleben von St. Anton auf. Nach der Machtübernahme durch die Nazis in Österreich wird er umgehend von seinem Posten als Leiter des Verkehrsbüros enthoben und erhält Arbeitsverbot. Im Dezember 1941 beginnt in St. Anton ein Kesseltreiben gegen seine Person, am 16. Dezember wird sein Haus von der Gestapo durchsucht, am 19. Dezember wird ihm befohlen, künftig den „Judenstern“ zu tragen und Tirol bis spätestens 10. Januar zu verlassen. Seine Frau Marianne schickt ein Gesuch an den „Führer“ und bittet um Aufschub. Am 3. Januar 1939 wird Gomperz’ Ski beschlagnahmt, am 5. Januar fährt Marianne Gomperz nach Landeck, um den Landrat – erfolglos – um einen Aufschub zu gewinnen.

Gomperz schreibt, offenbar im Wissen darum, dass sein „Umzug“ nach Wien nicht die letzte Station sein werde, einen Brief, den er mit „Ein Gruß aus dem Jenseits“ überschreibt. Ein guter Bekannter, Heinrich Mack, tät ihm, in die Schweiz zu flüchten und bietet ihm Geld an. Doch Gomperz erklärt, er könne seine Frau nicht allein lassen. Nach einem kurzen Aufschub muss Gomperz schließlich am 20. Januar nach Wien aufbrechen. Am 28. Januar fährt Marianne Gomperz zusammen mit Sohn Hans erneut nach Landeck, wo ihnen eröffnet wird, dass ihr Gnadengesuch aussichtslos sei.

Noch erreichen Briefe von Gomperz seine Familie, in denen er so tut, als gehe es ihm gut, sich nach den Buben erkundigt, Ratschläge gibt. Mittlerweile wohnt er in einer Wohnung mit elf Mitbewohnern im 2. Bezirk. Am 10. April wird die Wohnung in St. Anton erneut von der Gestapo durchsucht – Marianne Gomperz wird geraten, sich scheiden zu lassen, sonst werde sie wie eine Jüdin behandelt.

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Letzte Nachricht

Am 24. Mai erhält sie die letzte Nachricht von ihrem Mann. Julius Hirsch, ein Mithäftling, wird für kurze Zeit zurückgestellt und schickt drei Zettel und eine Nachricht nach St. Anton. „Ein Mann, der die Bibel und den Faust im Rucksack hat“, schreibt Hirsch, „kann nicht verlassen sein“.

Gomperz schildert in diesen Dokumenten, mittlerweile in das Sammellager Sperl verbracht, wo er auf seine Deportation wartet, seine letzten Erlebnisse in Wien. Noch immer nennt er sich einen „großdeutschen Idealisten“. Noch weiß er nicht, wohin die Deportation gehen wird. Am letzten Tag schreibt er: „Ich lass mich niemals unterkriegen und hoffe auf ein frohes, dann dauerndes Wiedersehen daheim. Grüße die Buben! […] Ewig sei dankbar für alles […].“ Am 20. Mai geht der 22. „Judentransport“ mit 986 Menschen, darunter Rudolf Gomperz, von Wien nach Osten ab. Am 26. Mai trifft er in Minsk ein, wo die Deportierten im Lager Maly Trostinec erschossen werden.

Hannes Schneider hingegen wurde 1939 in North Conway triumphal empfangen. Überall in den USA waren inzwischen österreichische Skilehrer tätig. Viele von ihnen waren vor den Nationalsozialisten geflohen, einige darunter waren jüdischer Herkunft. Die Hannes Schneider Ski School hatte bald auch in den USA einen besonderen Status. Der Name Schneider war zum Markenzeichen geworden.

Nach 1947 besuchte Schneider einige Male St. Anton, nicht zuletzt anlässlich des Arlberg-Kandahar-Rennens. Aber er kehrte nicht mehr nach Österreich zurück. „Unter meinen besten Freunden habe ich mich anscheinend getäuscht“, hatte er am 21. April 1938 nach der Entlassung aus der Haft an Benno Rybicka geschrieben. Und auch nach 1945 litt er nicht an Vergesslichkeit, hielt Treue und Abstand zugleich zu St. Anton. Ein nationaler Held wie andere Skifahrer ist Hannes Schneider nie geworden.

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