Der Stadttempel als Sightseeing-Ziel

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Wenn man das jüdische Wien besichtigen möchte, ist einer der Fixpunkte der Stadttempel. Mally Shaked ist seit 2011 für die Synagogenführungen verantwortlich. Von Alexia Weiss

Im Winter muss ich den Gürtel enger schnallen“, sagt Mally Shaked. Von Montag bis Donnerstag macht sie zwei Mal pro Tag eine Führung durch den Stadttempel. Zur kalten Jahreszeit kann es da schon passieren, dass sich gerade einmal zwei Touristen einfinden. Ihre Saison ist der Sommer. Dann macht sie zusätzlich zu den Tempel- auch Stadtführungen. Zu Fuß natürlich. „So halte ich mich fit.“

An diesem Jännertag sind erstaunlich viele Interessierte gekommen. Ein Paar aus Australien, eine Familie mit zwei Kindern aus Deutschland, ein Paar, das Russisch spricht, ein anderes, das sich auf Deutsch verständigt. Alle nehmen Platz im Hauptraum des Stadttempels, schauen hinauf zur hellblauen Kuppel mit den vielen goldenen Sternen, zum Thoraschrein. Die Himmelsanmutung geht auf die erste Renovierung Ende des 19. Jahrhunderts zurück, erzählt Shaked. Gleichzeitig wurde das Gebäude auch elektrifiziert. Das Licht ist an diesem Vormittag gedämpft. Wenn am Schabbat hier gebetet wird, ist es viel heller.

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Shaked erzählt über die Anfänge der Synagoge im frühen 19. Jahrhundert, über die kleine, wohlhabende, weitgehend assimilierte jüdische Gemeinde, das Anwachsen der jüdischen Population bis 1900 und darüber hinaus, die rechtliche Gleichstellung, die Kaiser Franz Joseph I. den Juden gab. „Die Juden, die dann kamen, und die, die vorher hier waren – da gab es große Unterschiede.“ Vor allem aus Osteuropa zog es viele in die pulsierende Hauptstadt. Sie flohen vor Pogromen und dachten, in Wien gäbe es keinen Antisemitismus. „Doch sie irrten“, sagt Shaked zu den Besuchern.

Sensibler Umgang mit heiklen Themen

Rasch ist von den 65.000 österreichischen Schoa-Opfern die Rede. Eine Dame fragt auf Englisch mit empörtem Unterton nach dem Umgang des offiziellen Österreich mit Maria Altmann. Shaked hört zu, versucht, alle relevanten Informationen zusammenzufassen, und erklärt, wie schwierig die Rechtslage im Fall der Klimt-Gemälde war, die die Nachfahrin der Familie Bloch-Bauer zurückforderte. Spricht schließlich von der moralischen Verantwortung, zu der sich der Staat Österreich bekannt hat.

Die Dame, die sich erkundigt hat, kommt aus Australien und heißt Shirley Lesh. Sie ist mit ihrem Mann Ron nach Wien gereist. Shirley Leshs Familie stammt aus Polen, erzählt sie nach der Führung. „Meine Eltern sind Holocaust-Überlebende.“ Der Vater ist bereits gestorben, die 89-jährige Mutter lebt noch.

„Aber sie hat eine Menge psychische Probleme. Physisch haben sie überlebt. Aber die Psyche hat es nicht verkraftet.“ Shirley Lesh bricht in Tränen aus. Das sei ihr auch schon während des Fluges über Polen passiert. „Polen kann ich nicht betreten. Aber hier will ich mir die Schul anschauen.“

Familie Mall kommt aus der Nähe von Pforzheim in Deutschland. Markus Mall ist evangelischer Theologe, arbeitet als Bezirksjugendpfarrer. In jeder Stadt, die sie besuchen, sehen sie sich auch die jüdischen Einrichtungen an, erzählt er. „Uns ist es wichtig, das Judentum zu verstehen, um das Christentum zu verstehen.“ Die Tochter erzählt, am letzten Gründonnerstag habe man das jüdische Pessach gefeiert. „Eigentlich ist es eine christliche Pessach-Feier“, wirft der Vater ein. Eine Erinnerung an das Letzte Abendmahl.

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„Die, die in den Stadttempel kommen, sind immer interessiert“, erzählt Shaked. Die Fragen fallen allerdings höchst unterschiedlich aus. 80 Prozent der Besucher aus Deutschland sind übrigens Nichtjuden, meist mit starkem christlichen Background. Im Gegensatz dazu sind 90 Prozent der US-Besucher jüdisch. Sie wollen wissen, wie es der Gemeinde hier geht und ob es noch Antisemitismus in Wien gibt. „Ich erkläre dann, dass der Antisemitismus immer einen anderen Charakter hat. Der Antisemitismus im Mittelalter war anders als jener im 17. und 18. Jahrhundert, der ein wirtschaftlicher Antijudaismus war, und wieder anders als der rassistische Antisemitismus in der NS-Zeit. Heute gibt es Antisemitismus vor allem unter dem Deckmantel des Antizionismus.“

Nichtjüdische Deutsche fragen dagegen eher zur Religion. „Ich versuche das immer locker zu machen, damit sich wirklich alle fragen trauen.“ An diesem Tag ergreift eine deutsche Frau die Chance: Nach der Erklärung Shakeds, dass der Stadttempel nach orthodoxem Ritus geführt wird, die dabei auch auf die beiden Frauengalerien zeigt, fragt sie: „Wer entscheidet, ob es eine orthodoxe Kirchengemeinde ist?“ Shaked antwortet, dass Wien seit jeher sehr traditionell sei, im Gegensatz etwa zu Berlin, das schon vor der NS-Zeit viele liberale Synagogen hatte. Sie fügt allerdings hinzu, dass dennoch viele Besucher des Stadttempels selbst nicht orthodox leben. Eine Besonderheit dieser Synagoge sozusagen.

Zu Ende geht die Führung vor den Tafeln, auf denen die Namen der Holocaust-Opfer geschrieben stehen.

Ein Moment der Stille

Kurz danach Erstaunen, als Shaked darauf hinweist, wie viele jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg für die k. u. k. Monarchie kämpften und starben. Letzter Halt dann vor der Erinnerungstafel an Salomon Sulzer. Der Kantor ist untrennbar mit Wien verbunden. Das australische Paar nickt. Den meisten anderen scheint er kein Begriff zu sein.

Zur Person

Mally Shaked, geb. 1949, stammt aus einer alteingesessenen irakischen Familie und wuchs in Israel auf. Nach dem Schulabschluss geht sie nach London, studiert Englisch, kehrt nach vier Jahren nach Israel zurück, wo sie ihren Mann – einen Österreicher – kennen lernt. Übersiedlung nach Wien, Heirat, Geburt der drei Kinder. Deutsch wollte sie nie lernen, nun muss sie es – und macht es ordentlich: drei Monate Intensivkurs. Heute findet sie: „Die Sprache ist doch schön.“ Die Ehe scheitert. 2002 fängt sie an, im Jüdischen Museum am Judenplatz zu arbeiten. Sie macht die Fremdenführerprüfung und ist seit 2011 verantwortlich für die Führungen im Stadttempel. Im Sommer bietet sie auch Stadtführungen auf Deutsch, Englisch und Hebräisch an.

2 KOMMENTARE

  1. Ich kann Mally Shaked als Fremdenführerin nur empfehlen. Sie ist kompetent, lebt das Judentum im Alltag und hat einen sehr netten Umgang mit den Menschen. Also alle Touristen – bitte unbedingt sie kontaktieren!

  2. Die ausgezeichneten Führungen in der Synagoge von Frau Maly Shaked sind für mich und meine Gäste jedes Jahr ein wichtiger Teil des Stadtaufenthaltes in Wien. Also ein Geheimtyp. Und auch eine kleine Reise in die Nachdenklichkeit. Neben Sachertorte und k.u.k. Besuchen sie eine Führung, es lohnt sich sehr.

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