Die Zeit heilt nichts. Meint das Wiener Burgtheater und lässt „Die letzten Zeugen“ auftreten, um an das Novemberpogrom 1938 zu erinnern. 75 Jahre danach sollen Überlebende der Schoa noch einmal ihre Geschichten erzählen. Doron Rabinovici zeichnet für das Projekt verantwortlich. Mit ihm sprach Anita Pollak.
wina: Wie ist es zu diesem Projekt gekommen?
Doron Rabinovici: Die Idee, Zeitzeugen auf die Bühne zu bringen, ist von Burgtheater-Chef Matthias Hartmann an mich herangetragen worden. Ich habe sieben Personen ausgewählt: meine Mutter, Vilma Neuwirth, die in Wien als Tochter einer damals so genannten „Mischehe“, aber mit Stern überlebte, Marko Feingold, Lucia Heilmann, die in Wien versteckt war, Rudi Gelbard, Überlebender aus Theresienstadt, und Ari Rath, der eine ganz andere Geschichte erzählt. Er steht für jene, die das Jahr 38 erlebt haben und es schafften wegzukommen. Außerdem Ceija Stojka, die leider nicht mehr lebt, deren Erinnerung aber sehr stark ist, denn ich wollte auch die Schicksale der Roma einbeziehen.
wina: In welcher Form können diese durchwegs betagten Zeitzeugen auf der Bühne zu Wort kommen?
DR: Die meisten Erinnerungen sind ja bereits verschriftlicht, zum Teil auch in Buchform, und werden in kurzen Szenen, die ich ausgewählt habe, von Schauspielern vorgetragen. Die Zeitzeugen sitzen dabei auf der Bühne, und wir sehen, wie sie zuhören. Sie haben aber auch die Möglichkeit, wenn sie das wollen, nach vorne zu gehen und einen Absatz selbst zu lesen. Nach der Veranstaltung soll es im Foyer Gespräche mit einzelnen in kleinen Gruppen geben, damit diese Menschen nicht allein gelassen werden. Man darf nicht vergessen, das sind ganz besondere Überlebende, denn die wenigsten können noch darüber reden oder gar damit auftreten.
wina: Man darf sich aber die Frage stellen, wozu man das jemandem zumuten soll. Es gibt ja jede Menge Bücher, Videos, Filme etwa von Spielberg. Was ist denn heute noch die Bedeutung dieser Zeitzeugenschaft?
DR: Die Unmittelbarkeit der Präsenz. Wenn in einer Gruppe von Verharmlosern oder Verleugnern plötzlich einer sagt: Was erzählen Sie da, ich war dort. Da kann man das Buch von ihm hochhalten, die Erinnerung vorlesen, es ist keineswegs dasselbe wie die Konfrontation mit einer lebendigen Erinnerung. Wir reden von Theater, das ist kein Film, das hat seine Vor- und Nachteile. Jeder dieser Menschen wurde bereits gefilmt. Sie schauen heute nicht mehr so aus wie zu dem Zeitpunkt, als sie gefilmt wurden. Marko Feingold ist über 100, und schon das ist eine Besonderheit. Der nächste Jahrestag wird der 100. sein, da wird vermutlich keiner von ihnen mehr da sein.
wina: Für diese alten Menschen werden die geplanten immerhin fünf Abende sicherlich strapaziös. Wie kann man sie da unterstützen?
DR: Wir haben verschiedenste Organisationen angesprochen, die in diesem Feld arbeiten, die Kultusgemeinde, Esra, Romano Centro, erinnern.at, auch Centropa. Uns ist wichtig, hier eine Verbindung zu haben, z. B. wenn es doch ein Problem geben sollte, etwa mit Esra.
wina: Ich habe Jorge Semprún, der ja Buchenwald-Häftling war, einmal gefragt, ob nur Zeitzeugen wirklich vom Holocaust erzählen können. Er hat gemeint, nein, denn über den 30-jährigen Krieg werde auch noch immer geschrieben. Die Gefahr, dass dieses Thema literarisch mit dem Tod der letzten Zeitzeugen sozusagen aussterben könnte, hat Semprún nicht gesehen. Doch manche Überlebenden haben ihre Geschichten bereits mythisiert, sie vielleicht schon wiederholt in Schulen oder Medien erzählt. Sind sie dabei nicht fallweise auch zu einer Art Literatur geworden?
DR: Es ist auch ein Stück Literatur, auch, aber es bleibt relevant solange wir in einer Zivilisation leben, in der das möglich war und ist. In unserer globalisierten Welt ist ja der Genozid die größtmögliche Katastrophe, ob Ruanda oder wo auch immer.
wina: Wenn man etwas auf die Bühne des Burgtheaters bringt, bekommt es einen anderen Rahmen.
DR: Auch das war ein Argument, es zu tun. Es ist hier aber kein Platz zum Fabulieren. Ich persönlich bin überhaupt kein Freund des Fabulierens in Richtung der Schoa, ich bin aber der Sohn einer Überlebenden, ich muss das nicht machen. Wenn man diese Texte auf die Bühne des Burgtheaters hebt, werden sie dadurch nicht literarisiert, sondern die Bühne wird politisiert. Die Bühne wird der Boden über diesem Abgrund. Das Burgtheater ist ein zentraler Ort, und in Österreich ist dieses Thema ja nicht immer schon behandelt worden, da ist es ein Signal gegen das Vergessen. Ich glaube, dass jede Erinnerung an das, was geschah, nie heranreichen wird an das, was geschah. Deswegen kann man nur versuchen, dieses Scheitern, das eingebaut ist in so eine künstlerische Arbeit, zu sehen, aber es so gering wie möglich zu halten.
wina: Alle Zeugnisse Überlebender sind naturgemäß Überlebensgeschichten. Menschen, die nicht mit der Thematik vertraut sind, könnten daraus schließen, Juden hätten die Schoa überleben können, während das ja der allerseltenste Fall war. Ist das nicht eine Gefahr?
DR: Ja, das ist eine Gefahr. In den vorgetragenen Geschichten kommen natürlich auch Opfer vor, die umgekommen sind. Ich glaube aber, dass man in den Diskussionen noch darauf hinweisen kann und dass das notwendig ist.
wina: Welche Verantwortung haben wir als zweite Generation oder unsere Kinder als dritte Generation, diese Stafette der Erinnerung weiterzugeben?