Sex, Schwerkraft und Lernen

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Am 6. Mai 2014 jährt sich Moshé Pinchas Feldenkrais’ Geburtstag zum 110. Mal. Weil der illustre Begründer der Feldenkrais-Methode auf das Engste mit der frühen Geschichte des Staates Israel verbunden ist, erscheint es umso passender, dass heuer an diesem Tag Jom HaAzma’ut ist. Eine Würdigung von Verena Krausneker

Moshé Feldenkrais (6. Mai 1904 in Slawuta, Ukraine – 1. Juli 1984 in Tel Aviv) wuchs im Schtetl auf. Der Sohn zweier Zionisten verließ dieses aber schon mit 14 Jahren, um Alija zu machen und nach einer sechsmonatigen Reise in Palästina anzukommen. Unter dem Eindruck der Bedingungen entwickelte er einen eigenen Zugang zur unbewaffneten Selbstverteidigung, über den er später auch publizierte.

Der wissensdurstige Athlet reiste nach seinem Schulabschluss nach Frankreich, wo an der Pariser Sorbonne Marie Curie seine Lehrerin war und er als Doktorand wissenschaftlicher Assistent des späteren Nobelpreisträgers Frédéric Joliot-Curie wurde.

Doch der sportliche Wissbegierige entwickelte sich auch auf anderen Ebenen weiter: Feldenkrais erlernte die japanische Kampfkunst Judo vom Begründer Jigoro Kano, der in Paris zu Gast war, und erwarb als erster Jude einen schwarzen Gurt.

1940 floh Feldenkrais nach Großbritannien, wo er elf Jahre im Dienste der British Navy verbrachte – und kontinuierlich die theoretischen Grundlagen der nach ihm benannten Methode des somatischen Lernens entwickelte. Sein erstes Buch darüber – Body and Mature Behavior: A Study of Anxiety, Sex, Gravitation and Learning – erschien 1949 in London bei Routledge. Ausgehend von seinen Erkenntnissen zeigte Moshé Feldenkrais, dass unvorstellbare Bewegungen zuerst vorstellbar und dann tatsächlich (wieder) ausführbar werden können – aber nicht Mobilität war sein Ziel: „Was mich interessiert, sind nicht bewegliche Körper, sondern bewegliche Gehirne.“

Wohlbefinden lernen
Moshé Feldenkrais wurde in der Hagana Spezialist für Selbstverteidigung.
Moshé Feldenkrais wurde in der Hagana Spezialist für Selbstverteidigung.

Feldenkrais begann sorgfältig komponierte Sequenzen mit ganz bestimmten Bewegungsabläufen zu kreieren, um körperliches Lernen zu ermöglichen. Diese finden im gesamten Spektrum der menschlichen Bewegung statt: von der frühkindlichen Bewegungsentwicklung bis hin zu körperlichen Höchstleistungen – z. B. in der Musik oder im Sport. Sie sind angenehm, manchmal überraschend und ermöglichen eine anspruchsvolle, aber ganz natürliche Art und Weise des somatischen Lernens, das unmittelbar positive Auswirkungen auf den bewegten Alltag hat. Auch Wohlbefinden und Gesundheit hängen vom Selbstverständnis ab, denn, so Feldenkrais, „wir handeln dem Bild nach, das wir uns von uns machen. Ich esse, gehe, spreche, denke, beobachte, liebe nach der Art, wie ich mich empfinde. Dieses Ich-Bild, das einer sich von sich macht, ist teils ererbt, teils anerzogen; zu einem dritten Teil kommt es durch Selbsterziehung zustande.“ Moshé Feldenkrais dokumentierte tausende sorgfältig ersonnene Bewegungssequenzen und -abfolgen, die bis heute die praktische Grundlage seines Werks darstellen. Die Feldenkrais-Methode ist ein einzigartiger und äußerst effektiver Zugang und kann sowohl in Gruppenstunden als auch im Einzelunterricht praktiziert werden. In den Genuss von Einzelstunden kam David Ben Gurion, der von schweren Schmerzen geplagt und stark in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt war.

„Ich muss auf dem Kopf stehen …“
Ben Gurion
David Ben Gurion

1951 kehrte der erfolgreiche Techniker und Naturwissenschafter Feldenkrais nach Israel zurück und gab dem Premierminister viele Jahre Privatstunden in seiner Methode. Er war ein Visionär, der Erkenntnisse der Neurologie sowie Wissen um Lernprozesse um Jahrzehnte vorausnahm: Seine Ansichten über die Einheit von Körper und Geist, über das plastische Gehirn und die menschliche Lernfähigkeit waren zu der Zeit so neu, dass sie bei so manchem Zeitgenossen, vor allem unter seinen Wissenschaftskollegen, Spott und Unglauben auslösten. Paula Ben Gurion nannte ihn abschätzig „Mister Hokuspokus“ – doch nachdem ihr 70-jähriger Mann am Strand von Herzliya öffentlich einen tadellosen Kopfstand gemacht hatte, gingen ab 1960 auf der ganzen Welt Türen für den charismatischen Lehrer auf. Zu seinen SchülerInnen gehören Yehudi Menuhin, Margaret Mead, Levi Eshkol, Moshe Dayan, Meir Weisgal, Nahum Goldman, Betty Ford und Yitzhak Ben-Zvi.

„Ich muss auf meinem Kopf stehen, damit der Staat Israel auf seinen Füßen steht.“ David Ben Gurion, Jahre lang Schüler von Mosché Feldenkrais

So beginnt die Geschichte dieses erfindungsreichen und unkonventionellen Mannes in Palästina mit dem Unterrichten junger Hagana-Kämpfer in Selbstverteidigung und findet ihren symbolischen Wendepunkt mit dem stolzen Kopfstand des ersten israelischen Premiers.

Bis zu seinem Tod 1984 lehrte Dr. Moshé Feldenkrais seine Methode, bildete weltweit Feldenkrais-TrainerInnen aus und publizierte regelmäßig. Die von ihm ausgebildeten Feldenkrais-TrainerInnen sind heute auf der ganzen Welt tätig. Die Feldenkrais-Methode kam vor etwas über 20 Jahren in Wien an – und hat inzwischen hier ein Zuhause im Feldenkrais-Institut Wien gefunden.

Bild 2WINA Info
Zum Nachlesen  und selbst erleben

Die deutschen Übersetzungen von Moshé Feldenkrais’ Publikationen sind so gut wie alle im Suhrkamp-Verlag erhältlich. Aus einem Buch lässt sich die Methode jedoch schwer praktizieren. Empfohlen seien zum Kennenlernen die immer kostenlosen Schnupperstunden im Feldenkrais-Institut Wien und bei anderen Anbietern, die allesamt auf der Website des Berufsverbandes zu finden sind: feldenkrais.at. Die chassidischen Wurzeln der Feldenkrais-Methode sind in dem 2007 erschienenen Buch Making Connections von David Kaetz dargestellt.

Feldenkrais-Institut Wien

Das seit sieben Jahren bestehende Feldenkrais-Institut Wien gehört zu den größten Lernzentren der Methode in Europa. Hier kann man täglich Kurse besuchen, es finden regelmäßig Workshops zu lohnenden Themen (Atemfreiheit, gesunder Rücken, Sehkraft) statt, und die internationale Ausbildung zum Feldenkrais-Lehrer ist hier zu Hause. Am 6. Mai 2014 bietet das Feldenkrais-Institut Wien aus Anlass des 110. Geburtstags von Moshé Feldenkrais die Möglichkeit, kostenlos sowohl Einzel- als auch Gruppenstunden zu erleben.
Taborstraße 71, 1020 Wien
Informationen & Anmeldung:
feldenkraisinstitut.at

© International Feldenkrais Federation  © Paul Goldman

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