Abgeholt aus der Leopoldstadt

Eine Ausstellung in der Krypta am Heldenplatz rückt die wenig bekannten Sammellager im Wien der NS-Zeit in den Mittelpunkt.

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Rudi Gelbard kann sich noch gut an die wenigen Tage in der Kleinen Sperlgasse 2a erinnern: Matratze war an Matratze gereiht, es war kalt, die Menschen schmiegten sich aneinander, um wenigstens ein bisschen Wärme zu spüren. Von hier wurden er und seine Familie 1942 mit einem Lkw zum Aspangbahnhof gekarrt. Die Kleine Sperlgasse 2a war, wie es die Historikerin Monika Sommer formuliert, „einer der Ausgangspunkte der Vernichtung“.
Vier Sammellager gab es in Wien. Ihre Adressen: Kleine Sperlgasse 2a, Castellezgasse 35, Malzgasse 7 und Malzgasse 16. Sie waren Durchgangsstation in einem düsteren Prozess: Zuvor waren die Menschen, die schließlich in Ghettos und Vernichtungslager transportiert werden sollten, bereits häufig in Sammelwohnungen zusammengepfercht worden. Die Verständigung, sich an einer der vier Adressen einzufinden, kam per Postkarte, so die Zeithistorikerin Heidemarie Uhl. Und die meisten Jüdinnen und Juden fanden sich dann auch dort ein – sie hatten keinen Ort, an dem sie sich verstecken hätten können. Und irgendwo aufgegriffen zu werden, schien noch riskanter. „Es war wie ein Planquadrat.“
Uhl und Sommer haben nun für die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) die Ausstellung Letzte Orte vor der Deportation. Kleine Sperlgasse, Castellezgasse, Malzgasse konzipiert. Und das an einem besonderen Ort: der Krypta im Äußeren Burgtor, über Jahrzehnte Platz des Heldengedenkens – nun umgestaltet zu einem Lern- und Vermittlungsraum. Der erste Blick bei Betreten der Krypta fällt auf einen Stadtplan. Eingezeichnet ist der Heldenplatz, also der Ausstellungsort. Eingezeichnet sind die vier Sammellager. Die räumliche Nähe ist erdrückend.
Und genau das will diese Schau auch vermitteln. Der Holocaust fand nicht nur in den Konzentrationslagern irgendwo in der Ferne statt, sondern er begann „mitten in der Stadt, in der unmittelbaren Nachbarschaft, vor den Augen der Wiener Bevölkerung“, betont Uhl. Jeweils 1.000 Menschen wurden von den vier Adressen in der Leopoldstadt in Lkws zum Aspangbahnhof transportiert. 45 Deportationszüge brachten sie schließlich zwischen Februar 1941 und Oktober 1942 in die Vernichtungsorte.
Auf dem Weg von den Sammellagern zum Bahnhof bekamen die ohnehin verzweifelten Menschen auch noch den Hass der Bevölkerung zu spüren. „Schau dir an, die Juden. Naja, schleicht’s euch, san wir froh, dass wegfahrts“, hat Herbert Schrott, der mehrere Konzentrationslager überlebte, zu hören bekommen.

Krypta, Hofburg, November 2016

„Der Holocaustbegann mitten in der Stadt …
vor den Augen der Wiener Bevölkerung.“ Heidemarie Uhl

Krypta, Hofburg, November 2016

66.000 Österreicher und Österreicherinnen wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Rund 45.000 von ihnen verbrachten ihre letzten Tage in Wien in einem der vier Sammellager, in denen Turnsäle als Schlafsäle dienten, die nicht beheizt waren. Was sie dort erlebt haben, erzählen die wenigen noch lebenden Holocaust-Überlebenden in Videos.
Besonders berührend ein Brief, der im Rahmen der Ausstellung erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wird. Rita Rockbauer schrieb darin an ihren geschiedenen Mann: „Nun bin ich soweit und fahre Morgen ins Dunkle – in die Fremde – ins Unglück!! Wer kann es wissen, ob wir uns je im Leben wieder sehen werden – nach aller Voraussicht nicht mehr; und doch fühle ich mich noch so jung – so unverbraucht – warum muss ich so viel leiden? Warum?“ Rita Rockbauer wurde am 14. September 1942 nach Maly Trostinec deportiert und ermordet.
Andere Züge fuhren vom Aspangbahnhof in Richtung Auschwitz-Birkenau, Chelmo, Belzec, Sobibor oder Treblinka. Die Überlebende Edith de Zeeuw-Klaber erinnert sich noch Jahrzehnte später: Die Abfahrt von diesem Bahnhof sei eine „Reise ins Ungewisse“ gewesen. Nur 989 Österreicher und Österreicherinnen überlebten die Deportation.

Fotopostkarte von Maxi Reich, geschrieben drei Tage vor seiner Deportation. „Lieber Martin Meine letzte Bitte vor Polen wäre das[s] du deinen Chawer [Kameraden]
Maxi nicht vergißt. Dein Maxi Reich Wien 2. III. 1941. Vor Polen.“

Maxi Reich vor seiner Deportation

Die Ausstellung in der Krypta am Heldenplatz ist bis 30. Juni bei freiem Eintritt zu sehen. Die Plattform erinnern.at bietet für Schulklassen Vermittlungsangebote an – dabei werden die Jugendlichen mit Arbeitsaufträgen durch die Schau geschickt. Auch dabei im Vordergrund: das Begreifen, dass der Holocaust eben mitten in der Stadt begann, so Maria Ecker und Samuel Kammermeier von erinnern.at.
Und wenn man dann die Krypta wieder verlässt und die wenigen Stufen heruntersteigt, steht man am Heldenplatz und hat die Bilder im Kopf, die Hitler an diesem Ort zeigen, und die vielen, vielen Menschen, die ihm zujubeln. Und dann ist es immerhin eine kleine Befriedigung, dass zumindest die Krypta nun nicht mehr am 8. Mai von rechten Burschenschafter für ein sehr einseitiges Heldengedenken missbraucht werden kann, sondern im Rahmen der Ausstellung allen Österreichern offen steht und – zumindest temporär – zu einem Ort der Reflexion, der Aufarbeitung umgestaltet wurde, an dem die Geschichte der Opfer des NS-Terrors im Mittelpunkt steht.

LETZTE ORTE VOR DER DEPORTATION –
Kleine Sperlgasse, Castellezgasse,

Malzgasse
Ausstellung bis 30. Juni 2017
Öffnungszeiten: Mo-Fr 9.00–11.30
und 12.30–16.00; Eintritt frei
KURATOR/INNENFÜHRUNGEN:
Die KuratorInnen Dieter J. Hecht, Michaela Raggam-Blesch, Monika Sommer und Heidemarie Uhl führen von Jänner bis Juni an jedem letzten Samstag im Monat um 11.00 Uhr durch die Ausstellung.
Treffpunkt: Eingang zur Krypta im
Äußeren Burgtor
oeaw.ac.at/ausstellung-letzte-orte

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