Als das Leben noch auf der Straße war

Die Albertina würdigt die große US-Fotografin Helen Levitt mit einer Retrospektive.

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Posing. Ihr kompositorischer Genius hatte einen Blick für das Ungewöhnliche, Lustige, Bizarre. Helen Levitt, Silbergelatinepapier, New York, 1938. © Sammlung Martin Z. Margulies

Helen Levitt Ausstelung bis 27. Jänner 2019
Albertina, Albertinaplatz 1, 1010 Wien
Täglich 9–18 Uhr, Mi. und Fr. bis 21 Uhr
albertina.at

Ich bin dort, wo viel los ist. Die Kinder waren früher draußen. Nun sind die Straßen leer. Die Menschen sind drinnen, schauen Fernsehen oder ähnliches.“ Helen Levitt wusste genau, was sie beklagte. Jahrzehnte lang hatte sie Menschen aller Altersgruppen auf den Straßen New Yorks fotografiert, mit Empathie und einem außergewöhnlichen Gespür für Komposition, für den entscheidenden Augenblick, aber auch für schräge, abstruse und witzige Situationen.

Helen Levitt machte sich auf Motivsuche in den ärmeren Viertelen New Yorks. © Film Documents LLC/Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln; Österreichische Ludwig-Stiftung für Kunst und Wissenschaft

Levitt wurde 1913 in eine jüdische Einwandererfamilie aus Russland geboren. Der Vater handelte en gros mit Textilien, die Mutter hatte vor ihrer Hochzeit als Buchhalterin gearbeitet. Helen wuchs in Brooklyn, im Viertel Bensonhurst auf, damals eine kleinbürgerliche „Neighbourhood“, in der vor allem Italiener und Juden lebten. Akademische Bildung war nicht ihre Sache, statt die High School zu absolvieren, begann sie eine Lehre bei einem Porträtfotografen. Sie fühlte sich zur Kunst hingezogen, litt aber daran, „nicht gut zeichnen zu können“. Ihre fotografische Erweckung verdankte sie Henri Cartier-Bresson, dessen Werke sie in einer Ausstellung gesehen hatte und der ihr Vorbild für künstlerische Fotografie wurde. In der Albertina findet sich übrigens eine großartige Hommage an ihn: ein Mädchen mit zwei Milchflaschen in den Händen, fast exakt dieselbe Pose wie jene des frechen französischen Buben mit seinen Weinflaschen, den Cartier-Bresson verewigt hat.

Blick aus dem Fenster. Gespür für Komposition, für den entscheidenden Augenblick. Helen Levitt: New York, Silbergelatinepapier, ca. 1940. © Film Documents LLC/Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln; Österreichische Ludwig-Stiftung für Kunst und Wissenschaft

Bronx, Harlem und Lower East Side. Levitt kaufte eine Leica – mit der auch der berühmte Kollege arbeitete – und machte sich auf Motivsuche in den ärmeren Vierteln New Yorks: in der Bronx, in Harlem und auf der Lower East Side. Sie zeigt Menschen, die einen Gutteil ihres Lebens auf der „Stoop“ verbringen, auf dem Stiegenaufgang vor dem Haus, Sessel hinausstellen, dort plaudern, streiten oder einfach warten, bis der Tag vergeht. Das können ernst oder gar deprimiert dreinschauende Wesen sein, junge, glückliche schwarze Pärchen; eine Serie gilt einem Betrunkenen, der in einem Kinderwagen hängt, andere  Bilder zeigen aufgedonnerte weiße Ladys.

Immer wieder im Zentrum ihres Interesses stehen aber die Kinder. Sie spielen am Hydranten oder tragen grimmige Faschingsmasken, sie kämpfen aggressiv mit langen Holzschwertern oder stellen mit Spielzeugwaffen Kriegsszenen nach, in den 40er-Jahren nicht gerade ungewöhnlich. Immer wieder trifft einen ihr direkter Blick, offen, fordernd, gar nicht scheu. Es sind kleine Erwachsene, zwar eingesponnen in ihre Welt der Spiele, aber keineswegs nur lieb oder brav.

Sie fühlte sich zur Kunst hingezogen,
litt aber daran, „nicht gut zeichnen zu können“.
Ihre fotografische Erweckung verdankte sie
Henri Cartier-Bresson.

Anders als der mit ihr befreundete Walker Evans blieb Levitt nie vorrangig der Sozialreportage verhaftet. Abgesehen von ihrem kompositorischen Genius hatte sie einen Blick für das Ungewöhnliche, Lustige, Bizarre. „Sozialen Surrealismus in den Straßen der Stadt“ nennt das einer der Autoren im Katalog der Ausstellung.

Jungs in New York. Blick für schräge, abstruse und witzige Situationen. Helen Levitt, New York, 1940. © Film Documents LLC/Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln; Österreichische Ludwig-Stiftung für Kunst und Wissenschaft

Levitt unterbrach nach Kriegsende ihre fotografische Arbeit und wandte sich dem Dokumentarfilm zu. Erst in den Siebzigerjahren kehrt sie wieder zur Street Photography zurück, ab jetzt legt sie Farbfilm ein, und auch in dieser Ausdrucksform zeigt sich ihre Meisterschaft. Nun streift sie etwa durch den Garment District Manhattans, und neben skurrilen Typen bildet sie auch Menschen bei der Arbeit ab. Levitt, die nie heiratete, fotografierte bis ins hohe Alter, auch noch, als ihr die Leica zu schwer wurde und sie diese gegen eine kleinere Contax austauschen musste. Sie starb 2009 96-jährig in New York.

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