Alt-Österreicher im Altneuland

Der charmante Wiener Schmäh brachte Sonnenstrahlen in den verregneten israelischen Winter.

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Wiener Schmäh, Musik und Apfelstrudel bei den Österreichischen Kulturtagen. © Miss Dandelion Events

Dr. Friedrich Löwenberg saß in tiefer Melancholie an dem runden Marmortische seines Kaffeehauses.“ Das ist die erste Zeile des utopischen Romans Altneuland von Theodor Herzl aus dem Jahr 1902. Er erzählt die Geschichte eines jungen Wiener Juden, der auf seinem Weg ein neues Zuhause im Altneuland findet. Noch im Erscheinungsjahr wurde Altneuland vom Schriftsteller Nachum Sokolow ins Hebräische übersetzt und erhielt den Titel Tel Aviv. Nach diesem Buchtitel wurde auch die erste jüdische Stadt Tel Aviv benannt, die in diesem Monat zum vierten Mal zu den Österreichischen Kulturtagen einlud.

Seit 2014 veranstaltet der Verein Wien – Tel Aviv Projekte, um die österreichisch-jüdische Kultur in Israel zu erhalten und zu fördern. Obfrau des Vereins ist Judith Weinmann-Stern, die dieses Herzensprojekt ins Leben gerufen hat: „Wir bringen den im Zweiten Weltkrieg nach Israel geflohenen Exilösterreichern die Musik ihrer Kindheit wieder und zeigen gleichzeitig Werke von Künstlern, die ebenso Opfer des nationalsozialistischen Regimes waren und deren Musik verboten war.“ Mittlerweile hat sich eine richtige Freundschaft zwischen Weinmann-Stern und den Exilösterreichern entwickelt: „Ich besuche sie regelmäßig und höre mir ihre Geschichten an.“

Dem Wunsch, den Altösterreichern ein bisschen Heimatfeeling nach Israel zu bringen, kamen nicht nur Künstler wie Andrea Eckert, Elisabeth Orth oder Cornelius Obonya nach: Über 30 weitere Gäste aus Österreich waren angereist, um diese Generation kennenzulernen, unter ihnen die Politiker Manfred Juraczka und Beate Meinl-Reisinger.

„Ich besuche sie regelmäßig und höre mir ihre Geschichten an.“
Judith Weinmann-Stern

Freitagvormittag wurde in das Musikkonservatorium im alten Norden eingeladen, wo nicht nur ein Wiener Kaffeehaus inklusive Apfelstrudel und Melange auf die Gäste wartete, sondern auch ein Operettenprogramm, gesungen von der Sopranistin Ethel Merhaut und begleitet vom Wiener Musiker und Komponisten Bela Koreny.

Das Licht im Saal ging aus, das Schwelgen in Erinnerungen begann. „Vergessene Melodien, die küssen dich, mein Wien“, heißt es in einer Textzeile aus dem Wienerlied Wien wird tausendmal schöner von Fritz Spielmann und Fritz Rotter, das auch die jüngeren Gäste in Wien-Nostalgie verfallen ließ. „Ich bin zwar nicht mehr in Wien geboren, aber die Kultur meiner Eltern und Großeltern versetzt mich in eine ganz eigene Stimmung. Es ist etwas zwischen Melancholie und Nostalgie. Man hat ihnen damals ihre Kindheit geraubt, und jetzt sehe ich, wie sie diese Musik genießen und sie wieder das Funkeln eines kleinen Kindes in den Augen haben. Das macht mich glücklich“, freute sich ein Gast der zweiten Generation.

Am Kuchenbuffet wurde es langsam eng, ich setzte mich an einen Tisch ehemaliger Wiener. „Gehören Sie auch zu den Altösterreichern? Ich habe heute meine Brille vergessen“, fragte mich ein älterer Herr. Wir lachten. Ein Wiener bleibt eben ein Wiener.

Das Durchschnittsalter der Altösterreicher liegt zwischen 80 und 100 Jahren. Diese Generation sitzt nicht melancholisch am Tisch ihres Kaffeehauses, so wie Herzl den Wiener um die Jahrhundertwende beschrieb. Sie haben trotz unfassbarer Lebensgeschichten den Wiener Schmäh nach Israel importiert.

 

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