András Heisler: „So entschlossen und einmütig waren wir schon 70 Jahre nicht!“

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Die Entscheidung der ungarischen jüdischen Gemeinden, an den Holocaust-Gedenkprojekten der Orbán-Regierung vorerst nicht teilzunehmen, trifft auf Lob und Zustimmung im In- und Ausland. Über die Hintergründe spricht Präsident Heisler mit Marta S. Halpert,
Fotos: Daniel Kaldori

wina: Ganz zufällig kündigte die ungarische Regierung im April 2013, nur wenige Wochen vor der Tagung des World Jewish Congress in Budapest, an, dass das Jahr 2014 zum Holocaust-Gedenkjahr ausgerufen wird. Zahlreiche Projekte zur Erinnerung an den 70. Jahrestag der Besetzung Ungarns durch deutsche NS-Truppen sollten mit einem Budget von rund fünf Millionen Euro gefördert werden. Ein Komitee unter Einbeziehung der Botschafter der USA, Israels, Deutschlands und Österreichs wurde gegründet. Auch die jüdischen Gemeinden waren positiv gestimmt. Jetzt hat die Föderation der Gemeinden, MAZSIHISZ, einen präzedenzlosen Beschluss gefasst: Sie kündigt die Mitarbeit auf, sofern Viktor Orbán drei geplante Projekte nicht stoppt. Was ist passiert?

András Heisler: Wir dachten, dass wir bei diesem gemeinsamen historischen Gedenken Partner auf gleicher Augenhöhe seien. Doch wir mussten schmerzlich erfahren, dass die Regierung bei diesem heiklen Thema, nämlich der Erinnerung an die Ermordung von knapp 600.000 Juden, jetzt, vor der Parlamentswahl am 6. April, eine Doppelstrategie fahren will: einerseits einige Synagogen herrichten, der jüdischen Bevölkerung separate Gedenkprojekte finanzieren und andererseits aber das allgemeine Wahlvolk mit Geschichtsrelativismus und nationalistischem Revisionismus von der Mitschuld an der ungarischen Schoa reinwaschen. Um das zu verhindern und nicht für Propagandazwecke missbraucht zu werden, hat MAZSIHISZ am 9. Februar 2014 mit 76 Ja-, zwei Nein-Stimmen sowie drei Enthaltungen den Beschluss angenommen, die Regierung um drei konkrete Maßnahmen zu ersuchen. So entschlossen und einmütig waren wir schon 70 Jahre nicht. Dennoch, wir wollen keine Helden sein, sondern eine effektive Interessenvertretung.

Welche Regierungsvorhaben meinen Sie?

In unserem Brief an Regierungschef Viktor Orbán haben wir zuerst grundsätzlich festgehalten, dass sich in den letzten Jahren die negative Praxis bezüglich der Erinnerungspolitik fortgesetzt habe. Als erstes haben wir darum ersucht, die geplante Errichtung des Denkmals zur Erinnerung an den Einmarsch der Wehrmacht am 19. März 1944 zu stoppen, weil die gewählte Symbolik die ungarische Verantwortung komplett ignoriert. Das Denkmal zeigt im Entwurf des umstrittenen Architekten Péter Párkány einen deutschen Reichsadler, der im Sturzflug das unschuldige Ungarn in Gestalt des Erzengels Gabriel angreift. Die Wahrheit ist jedoch, dass Ungarn schon seit 1941 mit Nazi-Deutschland verbündet war. Die erste antisemitische Gesetzgebung gab es bereits 1920.

Wie stehen die Chancen für den Stopp des Denkmalbaus?

„Schon das Wort ‚Schicksal‘ ist in diesem Zusammenhang falsch: Es ist kein jüdisches Schicksal, ‚Opfer‘ zu sein.“

Wir haben noch keine offizielle Antwort von Orbán erhalten, aber es kommen immer wieder kleine Signale aus seiner Umgebung, die darauf schließen lassen, dass das Datum 19. März 2014 für die Umsetzung nicht realistisch ist. Das heißt, dass dies vor den Wahlen nicht mehr geschieht. Vor zwei Wochen hätte ich davon nicht einmal zu träumen gewagt.

Das geplante Monument am Szabadság tér (Freiheitsplatz) ist Teil einer umfassenden Geschichtsfälschung?

Ja, daher haben wir uns auch in den ersten Reaktionen zurückgehalten, weil es ja kein rein jüdisches Thema ist. Es geht um ein gesamtgesellschaftliches Problem. Deshalb war das öffentliche Protestschreiben der ungarischen und international angesehenen Historiker in diesem Zusammenhang so wichtig. Da dieses Denkmal ausdrücklich „allen Opfern“ des Zeitraumes von März 1944 bis zum Kriegsende im April 1945 gewidmet ist, endet nach Lesart der Regierung Ungarns Souveränität am 19. März 1944. So hat sie das auch in der Präambel der seit 2012 gültigen ungarischen Verfassung festgehalten. Damit soll signalisiert werden, der ungarische Staat sei für den Holocaust an den ungarischen Juden nur eingeschränkt oder gar nicht verantwortlich gewesen.

Sie fordern auch im Namen des jüdischen Dachverbandes, dass das Projekt „Haus der Schicksale“ am Josefstädter Bahnhof gestoppt wird. Warum?

Das vorgesehene Gedenkzentrum am ehemaligen Josefstädter Bahnhof in Budapest wurde von der Historikerin Mária Schmidt konzipiert. Sie ist auch für das geschichtsrelativierende „Haus des Terrors“ verantwortlich, das sie leitet. Sie ist bekannt dafür, das Regime von Miklós Horthy bezüglich der Schoa zu verharmlosen. Außerdem weigert sie sich bei diesem Projekt, mit den jüdischen Historikern und Gemeinden zusammenzuarbeiten. Sie legt ihren Schwerpunkt insbesondere auf einzelne ungarische Retter jüdischer Kinder und nicht auf die sehr bereitwilligen Verfolger dieser. Schon das Wort „Schicksal“ ist in diesem Zusammenhang falsch: Es ist kein jüdisches Schicksal, „Opfer“ zu sein. Außerdem haben wir bereits die Gedenk- und Forschungsstätte in der Páva utca. Der Josefstädter Bahnhof war nicht der einzige, von dem Transporte nach Auschwitz abgingen, das geschah auf allen Bahnhöfen der Stadt.

Ihre dritte Forderung bezieht sich auf die Absetzung des Direktors des Veritas-Instituts?

Sándor Szakály wurde als Leiter des regierungsnahen Geschichtsinstituts Veritas installiert. Er relativierte schon zu Beginn des Holocaust-Gedenkjahres die ungarische Beteiligung am Holocaust: In einem Interview mit der Nachrichtenagentur MTI sagte er, Juden in Ungarn hätten erst nach der deutschen Besetzung des Landes am 19. März 1944 „bedeutende Verluste“ erlitten. Vorherige Deportationsaktionen des ungarischen Staates nannte er „fremdenpolizeiliche Verfahren“, weil die betroffenen Juden überwiegend nicht die ungarische Staatsbürgerschaft besessen hätten.

Die ungarischen Juden waren bisher nicht bekannt dafür, besonders aufzumucken. Der Tenor war eher auf Konsens und Beschwichtigung ausgerichtet. Jetzt begehrt man mutig auf?

Wir haben immer auf den konstruktiven Dialog mit den Behörden gesetzt. Doch jetzt wurde mit diesen drei Tatbeständen wahrhaft eine rote Linie überschritten. Diesmal ist es uns gelungen, bedeutende Persönlichkeiten, die bisher nichts mit der jüdischen Religionsgemeinschaft zu tun haben wollten, einzubeziehen. Ich habe Gespräche mit assimilierten, säkularisierten Juden geführt und mich auch von ihnen beraten lassen. Namhafte Intellektuelle, wie Ágnes Heller, Péter György, Tamás Ungváry, György Konrád und andere haben sich uns angenähert und MAZSIHISZ offen unterstützt.

Wie haben die ausländischen Botschafter des ungarischen Gedenkkomitees auf die jüngsten Entwicklungen reagiert?

„Wir haben immer auf den konstruktiven Dialog mit den Behörden gesetzt. Doch jetzt wurde wahrhaft eine rote Linie überschritten.“

Sie versuchen schon, uns zu helfen, aber natürlich stehen bei ihnen die bilateralen Beziehungen auf Regierungsebene an erster Stelle. Dennoch hat der deutsche Botschafter das geplante Monument kritisiert, und Israel hat den ungarischen Botschafter in Jerusalem einbestellt und Erklärung gefordert. Leider sind auch innerhalb unserer Gemeinde nicht alle mit unserer neuen Linie einverstanden. Ich bekomme genug Gegenwind zu spüren. Das empfinde ich jetzt sogar als Sünde gegen die Gemeindeinteressen.

Das Jüdische Sommerfestival, die Frankel-Synagoge und andere jüdische Organisationen bestehen darauf, ihre Erinnerungsprojekte 2014 durchzuführen, aber ohne dafür Geld von der Orbán-Regierung in Anspruch zu nehmen. Sie haben zusätzlich noch etwas vorgeschlagen?

Wir haben die Pläne zur Renovierung der wunderschönen Rumbach-Synagoge begrüßt, einem Jugendstil-Baujuwel – das einzige Werk Otto Wagners in Ungarn. Wir haben vorgeschlagen, dort eine Dauerausstellung über die fruchtbare Symbiose des Zusammenlebens in Budapest zu gestalten. Wir wollten das Gemeinsame der Vergangenheit aufzeigen. Und falls Geld nach der Restaurierung übriggeblieben wäre, sollte dieses für sozial Bedürftige in der Bevölkerung verwendet werden.

ZUR PERSON
András Heisler wurde 1955 in Budapest geboren, wo er Maschinenbau und Wirtschaft studierte. Von 1990 bis 2010 Mitglied im Führungsgremium der Dohány-Synagoge in Budapest, 1993–2005 im Leitungsteam der Föderation jüdisch-ungarischer Gemeinden sowie 1994–2004 Mitglied der Leitung der jüdischen Gemeinde Budapest. 2005 gründete er das Jewish Community Forum, 2009 die Limmud Hungary Foundation. Seit 2013 ist Heisler Präsident der Förderation der jüdischen Gemeinden in Ungarn.
Er ist verheiratet und hat zwei Söhne.

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