„Auf der Suche nach der verlorenen Vergangenheit“

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Weltweit versuchen Menschen, ihre Familiengeschichten zu rekonstruieren. Doch was macht man, wenn man nicht einmal seine Großeltern gekannt hat? „Ich kann meine eigene Vergangenheit nicht schildern. Ich muss sie erfinden“, erklärt Gabi Gleichmann. Von Anita Pollak

Im Spanien des frühen 12. Jahrhunderts beginnt die Geschichte der Spinozas, und sie endet im Oslo der Gegenwart mit dem letzten Spross der Familie, dem Erzähler, der sie wiederum als Kind von seinem Großonkel in Budapest gehört haben will.

Niemand Geringerer als Moses selbst soll dereinst dem Ahnherrn Baruch Halevi den Auftrag gegeben haben, Espinosa zu verlassen, die Gebote zu beachten, eine Dynastie zu begründen, das Geheimnis eines lebenserhaltenden Elixiers zu finden und dieses den jeweils folgenden Generationen weiterzugeben.

Fiktion und Historie
Gabi Gleichmann:  Das Elixier der  Unsterblichkeit. Aus dem Norwegischen von Kerstin Hartmann und Wolfgang Butt. Carl Hanser Verlag;  672 S.,  26,80 EUR
Gabi Gleichmann:
Das Elixier der
Unsterblichkeit.
Aus dem Norwegischen von Kerstin Hartmann und Wolfgang Butt.
Carl Hanser Verlag;
672 S., 26,80 EUR

Schon mit dem Namen des Propheten und dem geschichtsträchtigen der Familie Spinoza beginnt das Spiel von Fiktion, Historie, Wahrscheinlichkeit und Täuschung, mit dem der Autor seine Leser durch acht Jahrhunderte und 36 Generationen jagt, wobei er sich der Chronologie genauso wenig verpflichtet fühlt wie der so genannten Wahrheit. Munter darauf los fabulierend lässt er Protagonisten der Weltgeschichte, Herrscher, Künstler und Denker aufmarschieren, von den spanischen Schreckgestalten der Inquisition über Napoleon, Kaiser Franz Joseph bis zu „Adi“ Hitler, Stalin und Horthy, um nur ganz, ganz wenige aus seinem Erzähluniversum zu nennen. Mit, neben vor und hinter ihnen treten größere und kleinere Gestalten der tatsächlichen und erfundenen Geistes- und Familiengeschichte auf und wieder ab, Philosophen, Rabbis, Ärzte, Scharlatane, Hochstapler, Gauner, Huren, Mystiker, Kaufleute und Lebenskünstler, Mörder und Selbstmörder. Spanien, Portugal, die Niederlande, Paris, Wien und Budapest sind nur einige der Schauplätze dieser ewigen Wanderung durch Heimaten und Exile. Seinen Blick zurück wendet der Erzähler dabei ebenso auf historische und private Schlachtfelder und offenbar besonders gern auch in Folterkammern und Schlafzimmer, breitet philosophische Theorien ebenso genussvoll aus wie intime erotische Details seiner Chronique scandaleuse.

Der alte jüdische Imperativ „Zachor“ (Erinnere dich) ist wohl nur die Initialzündung für diese fast ungebremste Flut von Fakten, Phantasien und Spekulationen, deren offenbar willkürliche Vermengung stellenweise auch ziemlich ärgerlich sein kann.

Doch wer historische Schmöker liebt, wer opulente Familiensagas im Stil von Márquez oder Rushdie schätzt, wird an diesem Hybrid von gut erfundenen Anekdoten und gut recherchierten Tatsachen seine Freude haben.

Und nicht zuletzt ist dieser Schicksalsroman einer sephardischen Familie eine Geschichte aus der jüdischen Geschichte, die letztlich leider gar nicht erfunden ist.

ZUR PERSON:
1954 in Budapest geboren, kam Gabi Gleichmann als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Schweden, wo er Philosophie und Literatur studierte und journalistisch tätig war. Mit seiner norwegischen Frau lebt er heute als Verleger, Autor und Publizist in Oslo. Er möchte, dass seine drei Kinder in Norwegen, wo es so gut wie keine Juden gibt, „die DNA verstehen, die ich in mir trage. Die gesammelte Erfahrung vieler Generationen“, erklärte er in einem Interview für die NZZ.

Bild: Peter-Andreas Hassiepen

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