„Ausgewogen zu bleiben, ist eine große Herausforderung“

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Die Psychologin Evelyn Böhmer-Laufer leitet seit 2005 das Peacecamp. Am Ferienlager nehmen israelische und arabische, ungarische und österreichische Jugendliche teil.

Redaktion und Fotografie: Ronnie Niedermeyer

Die westliche Welt erlebt gerade einen Rechtsruck. Welchen Nutzen kann das Peacecamp in Zeiten wie diesen bringen?

Evelyn Böhmer-Laufer: Die einzige Möglichkeit, dem Fremdenhass entgegenzuwirken, ist, mit Fremden zu reden, sie kennenzulernen und sich ihnen bekannt zu machen. Das Peacecamp bietet Rahmen und Impuls, die Kultur anderer zu erleben und ihnen die eigene näherzubringen. Wir laden Jugendliche hierher ein, damit ein Lernprozess stattfinden kann, aber im Gegensatz zu einer Schule haben wir ihnen nichts zu lehren – weil wir, die Erwachsenen, eigentlich versagt haben. Schau dir die Welt an: Xenophobie, Nationalismus, Kriege, Blutvergießen. Wie man den Frieden herbeiführt, können wir zwar nicht beibringen, aber es vielleicht zusammen lernen.

„Die einzige Möglichkeit, dem Fremdenhass entgegenzuwirken, ist, mit Fremden zu reden.“

Rabbi Nachman behauptete, mehr von seinen Schülern gelernt zu haben als von seinen Lehrern.

❙ Bei uns ist es ein gemeinsamer Lernprozess. Das Peacecamp findet an einem Ort statt, wo es nichts gibt: kein Beisl, keinen Kiosk, keine Disco, keine Pizzeria, keine Ablenkungen, überhaupt nichts außer uns selbst inmitten der Natur. Ich sage ihnen: „Wir sind hier auf einem neuen Planeten gelandet, lauter unterschiedliche Menschen, die nicht einmal eine gemeinsame Sprache haben. Hier können wir eine neue Gesellschaft gründen, neue Lebensformen entwickeln und lernen, wie man miteinander auskommt.“ Wir sind alle auf Augenhöhe – natürlich gibt es unter den Erwachsenen auch Experten, zum Beispiel haben wir einen Psychoanalytiker, der sich darauf versteht, Gruppen zu leiten. Aber auch er ist nur als Moderator tätig: Er gibt keine Inhalte vor, sanktioniert nicht, macht keine Vorschriften und hat letztendlich auch keine Doktrin zu vermitteln.

Was motiviert Schüler, sich anzumelden?

❙ Am ersten Tag frage ich alle, warum sie da sind. Manche sagen, es sei wegen des guten Englischtrainings oder weil sie umsonst ins Ausland reisen dürfen. Die wenigsten kommen mit einem deklarierten politischen Anliegen. Trotzdem wissen sie, was auf sie zukommt, weil sie im Vorfeld einige Fragen beantworten müssen: Was das Wort „Friede“ für sie persönlich bedeute, was die Hindernisse für Frieden seien, was sie selbst schon getan haben, um ihr Lebensumfeld friedlicher zu gestalten, und was sie dafür in Zukunft tun könnten. Diese vier Fragen dienen als Leitmotiv durch das ganze Peacecamp.

Welche Vorurteile haben Teilnehmende gegenüber Minderheiten in ihrer eigenen Kultur?

❙ Genau das war heuer unser Hauptthema. Es haben sich Ressentiments gegenüber Homosexuellen gezeigt, gegenüber Behinderten, gegenüber Menschen, die nicht den gängigen Schönheitsidealen entsprechen, und gegenüber Menschen, die allgemein anders ticken. Manche Gruppen haben das Thema überhaupt verfehlt und sich selbst als Opfer von Vorurteilen stilisiert. Es ist immer leicht zu sagen, man werde ungerecht behandelt. Da komme ich mit der Gegenfrage: „Was kannst du dagegen tun?“ Nicht, was der andere tun kann, denn darauf haben wir keinen Einfluss. Die Frage ist, wie kann ich als Individuum dabei helfen, die Stellung meiner Person und die meiner Angehörigen in der Welt zu verbessern. Was kann ich dazu tun, Terror und Kriegsdrohungen zu beruhigen, indem ich Einfluss auf meine eigene Gruppe nehme.

Was sind die größten Unterschiede zwischen den Schülern unterschiedlicher Herkunft?

❙ Erstaunlicherweise gibt es kaum Unterschiede. Sie streiten mit ihren Eltern; sie finden ihre Geschwister blöd; sie beschweren sich über zu viele Aufgaben; am Abend wollen sie nicht ins Bett und in der Früh wollen sie länger schlafen … Das ist ja eine der Stärken des Peacecamps: Man sieht, die anderen sind wie wir. Dafür gibt es innerhalb jeder Gruppe große Unterschiede: Einer ist schüchtern, der andere witzig; einer ist träge und der andere voller Tatendrang.

Was sind für dich persönlich die größten Herausforderungen am Peacecamp?

❙ Ausgewogen und neutral zu bleiben – und selber das umzusetzen, was ich von den anderen verlange. In den „Zehn Geboten“ des Peacecamps steht unter anderem, man soll jedem respektvoll zuhören und auch dann nicht sofort reagieren, sondern erst verarbeiten. Auch für mich ist das eine große Herausforderung, weil mich manche politischen Aussagen sehr irritieren – nicht nur von den Jugendlichen, sondern auch von den Erwachsenen. Es ist eine unglaubliche Herausforderung, Menschen aufmerksam zuzuhören, die eine völlig konträre Meinung haben. Meistens hören wir gar nicht richtig zu, sondern warten nur noch auf das Stichwort, bei dem wir einhaken können – um uns dann wie ein Löwe auf die Beute zu stürzen. So kommt man nie dem Gegenüber näher.

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