Bevor es zu spät ist

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Zeruya Shalevs großer Familienroman Für den Rest des Lebens. Von Anita Pollak 

Wann beginnt es aufzuhören? Wann hat sich das Leben festgefahren? Wann ist es zu spät?

Wann beginnt der Rest des Lebens?

Mehr Vergangenheit als Zukunft, so fängt das Alter an; und damit kämpfen sie, Bruder und Schwester, in Zeruya Shalevs neuem Familienroman Für den Rest des Lebens.

Eine Lebenskrise, ausgelöst durch das Scheitern einer Ehe, daraus entstand eine neue „späte Familie“, so Titel und Thema von Shalevs letztem Roman. Nach über sechs Jahren hat sich die israelische Bestsellerautorin, prominente Erforscherin von „Liebesleben“, nun einer weiteren Krise zugewandt, die man gern als Midlife Crisis bezeichnet, weil sie die Mitte des Lebens, wo immer man sie ansetzen möchte, wann immer man sie verspüren mag, mit eindeutigen Symptomen (be)trifft. Meisterlich zeichnet Shalev diese auf, gleichermaßen einfühlsam bei Mann und Frau.

Sie spürt, „dass die Waagschale, auf der die Erinnerungen liegen, überläuft, während die Schale mit den Hoffnungen federleicht ist“.

Während ihre einzige Tochter Nizan zur Frau wird, setzen bei Dina die Wechseljahre ein, unerwartet früh und wie ein Schicksalsschlag. Lange wollte sie kein zweites Kind mehr, nachdem Nizans Zwillingsbruder vor der Geburt abgestorben war. Als Einzelkind mit Mutterliebe überschüttet, wünschte sich auch Nizan keine Geschwister. Und Dinas Ehemann Gideon war die Kleinfamilie ohnehin immer groß genug.

„Kann man sich schützen ohne anzugreifen?“

Aber als es nicht mehr geht, genau da bricht die Sehnsucht nach einem Kind, nach neuer Mutterschaft über Dina herein. Besessen sei sie wie von einem Dybbuk, austreiben müsse man ihr diese absurde Idee, ein Kind zu adoptieren, meint der Mann. Ihr stures Festhalten am Wunsch nach einem kleinen mutterlosen Jungen, der irgendwo in der Welt auf ihre Liebe wartet, beherrscht ihren Alltag, ihre Träume und Tagträume. Während sie hektisch Agenturen und Internetforen kontaktiert, zerfällt ihre Familie.

Sehnsucht nach dem anderen Leben

Die Familie ihres Bruders Avner zerfällt gleichzeitig durch andere Fantasien. In einer lieblosen, viel zu früh geschlossenen Ehe mit zwei Söhnen lebend, muss auch er sich der Frage nach dem Rest seines Lebens, nach der Gestaltung dieses Restes stellen. Eine kurze, schemenhafte Begegnung mit einer fremden Frau lässt in ihm verführerische Fantasien von einem anderen, besseren Leben, von einer Liebe, mit der er sterben möchte, entstehen.

Geschrumpft wie sie selbst ist der Lebensrest von Chemda, der alten Mutter der beiden Geschwister. Sie fantasiert sich zurück in ihre glücklose Kindheit im Kibbuz, dessen Ansprüchen sie so wenig entsprach wie denen ihrer Eltern. Rückblickend hinterlässt ihr Leben eine Spur des Scheiterns und der Verluste. Tochter und Ehemann liebte sie zu wenig, den Sohn zu viel, und erst in den letzten hellen Momenten vor ihrem Tod gelingt es ihr, Kindern und Enkelin etwas mit auf den Weg zu geben.

Liebe führt zu Liebe, und Liebe kann man lernen.

Ein elegischer Grundton des Scheiterns, des Verlustes, des Zu-spät- und Zu-kurz-Kommens zieht sich durch den Roman, durch das Dasein seiner ProtagonistInnen. In einem fatalen Familienmuster verfehlen sie einander in ihren Beziehungen, kommt für sie alles zur Unzeit – „in unserer Familie geschehen die Dinge zu spät oder zu früh“. Die eigenen Ideale sind ebenso unerreichbar wie die der Kibbuz-Bewegung und des jungen Staates. Denn die privaten, intimsten Tragödien und Konflikte spielen in Shalevs Romanen immer vor der näheren oder ferneren, jedenfalls aber unaustauschbaren Kulisse Israels, seiner Landschaften, seiner Geschichte und seiner Gegenwart. So vertritt Avner als Anwalt die Rechte von Beduinen vor den israelischen Gerichten und wird dabei nicht weniger frustriert als in seiner Ehe. „Kann man sich schützen ohne anzugreifen? Falls es je eine Möglichkeit gegeben hat, ist sie versäumt worden, doch er kommt immer mehr zu der Erkenntnis, dass es diese Möglichkeit nie gab.“

Bevor es zu spät ist

Letzte Möglichkeiten ergreifen, bevor es zu spät ist, die Weichen noch einmal neu stellen für den Rest des Lebens. Das gelingt nur mit aller Kraft und Fantasie. Und für die Macht der Fantasie tritt die Autorin mit erzählerischer Rafinesse, mit der Gewalt ihrer Bilder und ihrer Sprache hier ein. Sie lässt die anfänglich völlig absurden, bizarren Tagträume ihre ProtagonistInnen letztlich über die Realität der ewigen Besserwisser siegen. Wie ferngesteuert folgt Avner seinen Hirngespinsten, bis aus der Lüge Wahrheit wird. Und für Dina wird letzten Endes ein virtuelles Kinderbild in der Kälte Sibiriens herzerwärmende Wirklichkeit. Wobei gerade Avners Geschichte, bei der die Erzählerin quasi in die Haut eines Mannes schlüpfen muss, psychologisch besonders überzeugt und menschlich fast noch mehr zu berühren vermag als Dinas Schicksal, in welchem sich unübersehbar einige biografische Parallelen zur Autorin finden. So hat Shalev selbst zu ihren beiden Kindern noch ein Kind adoptiert.

„Verlust führt zu einem Verlust“, weiß die Mutter. Liebe führt zu Liebe, und Liebe kann man lernen, erfahren ihre Kinder. So kitschig das in dieser Verkürzung klingen mag, so wenig kitschig vermittelt es Zeruya Shalev in der vollen Länge ihres großartigen Romans. Doch man muss ihr schon über 500 Seiten durch Ehe- und andere Höllen folgen, um am Ende dieses Rezept für den Rest des Lebens dankbar entgegenzunehmen.

Zur Person

Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth in eine Literatenfamilie geboren (der Schriftsteller Meir Shalev ist ihr Cousin), studierte sie in Jerusalem Bibelwissenschaften. Mit ihrer Trilogie („Liebesleben“, „Mann und Frau“, „Späte Familie“) wurde die israelische Bestsellerautorin auch international bekannt und in 22 Sprachen übersetzt.

Sie lebt mit ihrem dritten Mann, dem Journalisten und Schriftsteller Eyal Megged, ihren beiden leiblichen Kindern und einem Adoptivkind in Jerusalem, wo sie 2004 bei einem Bombenattentat auf einen Bus verletzt wurde.

 

 

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