Das „banale Judentum“ und Günter Grass

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64 Jahre nach der Staatsgründung ist Israel in vieler Hinsicht ein erstaunlich normales Land. Beinahe wären auch die diesjährigen Pessach-Feiertage unter diese Kategorie gefallen. Gisela Dachs mit Nachrichten aus Tel Aviv.

Fast wäre es eine relativ unaufgeregte Pessach-Woche gewesen. Jüdische Feiertage, wie sie eben nur in Israel üblich und möglich sind. Mit den traditionell geschlossenen Bäckereien, Pizzerien und Falafel-Ständen sowie den verdeckten Regalen in den Supermärkten, um den Blick auf alles Gesäuerte zu vermeiden, das ja nicht verkauft werden darf. 70 Prozent aller Israelis, so wird geschätzt, halten sich an die besonderen Speisevorschriften, verzehren also kein Chametz. Längst aber ist das Angebot an „Ersatz“-Zutaten so groß, dass niemand mehr auf ein (mit eigens präpariertem Mazzemehl) Schnitzel oder die (Reis-)Nudeln in der Suppe verzichten muss, sofern seine Herkunft den Verzehr von Reis gestattet.

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Und wie immer zog es die Menschen scharenweise ins Grüne

Zum Picknick, zum Grillen, zum Bestaunen der neuen Öko-Skulpturen aus gebrauchten Coca-Cola-Dosen, zu den Wanderwegen des KKL oder aber in die Museen, zu der Eis-Figuren-Austellung in Jerusalem oder einer der mittlerweile zwei IKEA-Filialen im Land. Dort soll sich übrigens das Angebot an Esstischen von dem europäischen Sortiment unterscheiden. Dass man in den israelischen Fami­lienhaushalten eben einfach größere Exemplare braucht, war ja gerade erst wieder am Sederabend unter Beweise gestellt worden. Selbst die Cafeteria bei IKEA war ganz auf Pessach eingestellt. Oder zumindest fast. Nur über dem Selbstbedienungsschalter für Pepsi Cola stand die Warnung, dass das Getränk nicht Kasher-le-Pessach sei.

Viele Cafés in Tel Aviv hingegen haben längst ihre eigenen Kompromisse mit der Klientel geschlossen. Auf Wunsch gibt es dort alles wie gehabt – mit oder ohne Mazze. Man wird aber in jedem Fall danach gefragt. Man könnte das „banales Judentum“ nennen, wie es die Gründungsväter Israels im Sinn gehabt haben mögen – in Anspielung an den von Sozialwissenschafter Michael Billig 1995 geprägten Terminus „banaler Nationalismus“. Dieser Begriff bezieht sich auf verbindende Symbole auf Geldscheinen, in patriotischen Liedern oder in der Alltagssprache, wenn in den Nachrichten zum Beispiel von dem Wetter oder dem Premierminister oder unserer Mannschaft die Rede ist. So wie man in der restlichen westlichen Welt nicht an Weihnachten vorbeikommt, ist Israel – als einziges Land – eben von Pessach geprägt. Das gehört zum Selbstverständnis.

64 Jahre nach der Staatsgründung ist Israel heute in vieler Hinsicht ein erstaunlich normales Land. Zu dieser Entwicklung gehören ausgesprochen gute Beziehungen zu Deutschland, das immerhin als zweitwichtigster Partner nach den USA gilt. Wer einigermaßen gebildet ist, kennt hier auch Günter Grass’

Blechtrommel, ebenso wie er vermutlich kürzlich im Kino war, um sich als einer von zigtausenden Israelis den iranischen Film A Separation anzusehen, noch bevor dieser den Oscar für das beste ausländische Werk bekam. Man war neugierig auf Alltagszenen aus einem Land, dessen Regime so gerne davon redet, dass es Israel von der Landkarte löschen möchte. Zu den Kinogängern zählten betagte Einwanderer, die den Iran als Kinder verlassen haben und sich noch gut an die Zeiten vor der Khomeini-Revolution 1979 erinnern, als beide Länder in Freundschaft verbunden waren. Auch sie wollten einen Blick hinter die Kulissen werfen, ins moderne Teheran, in eine Gesellschaft, die mehr zu bieten hat als tiefverschleierte Frauen und vielleicht bald die Bombe.

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Über die iranische Bedrohung ist dieses Jahr an vielen Sederabend-Tischen diskutiert worden

Ebenso wie über die Figur Günter Grass und sein Pseudo-Gedicht in der Süddeutschen Zeitung, das zwei Tage zuvor erschienen war. Darin prangerte der alte Mann ja nicht nur Israel als Bedrohung für den Weltfrieden an, sondern unterstellt der Bevölkerung, das iranische Volk mit ihrem eigenen (verschwiegenen) Atomwaffenarsenal vernichten zu wollen. Spätestens da wurden die Israelis wieder einmal daran erinnert, dass ihr Land zumindest in den Augen anderer alles andere als banal oder normal erscheint.

Für die meisten ist Grass – wie für viele seiner europäischen Kritiker auch – letztlich nur ein Produkt seiner Zeit, seiner Generation geblieben. In seinem fernen Wohnsitz bei Lübeck hatte Grass in einem Interview 2011 gegenüber dem israelischen Autor Tom Segev wiederholt, was da einige Jahre zuvor erst bekannt geworden war: dass er nämlich Anfang 1945 mit 17 bei der Waffen-SS gedient hatte. Andere Israelis, wie etwa Segev, halten Grass eher für „erbärmlich“ als für antisemitisch, da er sich als schlecht informierter Laie zu solchen großen Meinungen aufschwinge.

Doch das Problem sei nicht Günter Grass, schrieb der Theaterregisseur Yoshua Sobol, „sondern die 50 Prozent Leserschaft“ der Süddeutschen Zeitung, die ihm nach einer Internetumfrage derselben Publikation zustimmten. Die Nazis hätten nur 50 Millionen Menschen erledigt, Israel aber wäre demnach ja im Begriff 80 Millionen Iraner auszulöschen. Ob denn die gesamte christliche Welt ein psychologisches Bedürfnis danach verspüre, fragt Sobol, dass Israel ein noch schlimmeres Verbrechen als die Nazis begehe?

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