Das Orbán- Phänomen

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Schutzlos ausgeliefert? Der lange Abschied Ungarns von einer freien Demokratie. Von Zsófia Mihancsik

Am am 1. Jänner 2012 trat das neue ungarische Grundgesetz in Kraft. Ein politischer Meilenstein auf dem langen Weg Ungarns in die politische Isolation, mitten in Europa.Das „Orbán-Phänomen“ ist gefährlich, nicht nur für die ungarische Demokatie, für die Bürger des Landes, sondern auch für Europa. Doch wie schaffte es das Land nach 20-jähriger Demokratie, dass ein „kleinkarierter Despot“, so die Financial Times, zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, der alle demokratischen Errungenschaften und rechtsstaatlichen Institutionen in kürzester Zeit zunichte machte? Und weshalb ist die junge ungarische Demokratie diesen Entwicklungen so schutzlos ausgeliefert?
Nicht rechtzeitig gewarnt
Ab­gesehen von einigen „besessenen anti­orbánischen“ Politologen meldete sich in den letzten Jahren (vor allem nach seinem Wahlverlust 2002) keine intellektuelle Stimme in der Öffentlichkeit, die Orbáns Methoden, Ideologie und Ziele kontinuerlich und erschöpfend analysiert und die ungarische Gesellschaft rechtzeitig aufgeklärt und gewarnt hätte.
„Er ist überzeugt, dass dieses Land, das Land der ehemaligen Kommunisten, und dieses Volk, Kádárs Volk, unfähig sind, über ihr Schicksal, über ihre Zukunft zu entscheiden. Eine Schafsherde, die geschickt in den Stall getrieben werden muss, um sie dort leichter zähmen zu können. Zu diesem Zweck muss er nicht nur das Volk, sondern alles und jeden unterdrücken. Da diese Vorstellung und die aus ihr abgeleitete Politik totalitär sind und damit mit einem demokratischen Land und demokratischen Europa in Widerspruch stehen, muss er sich stets tarnen und verstellen. Dazu dienen ihm Ideologien und Legendenbildungen über Nation, Vaterland und Ungarntum ebenso wie die Berufung auf den angeblichen Volkswillen. Und die ‚Herde‘ versteht nicht, dass dieser Weg nicht in die Zukunft, sondern nur in den Stall führt“, schrieb ich 2008 über Orbán. Und weiter: „Die heutige Fidesz-Partei ist die Institutionalisierung der extremsten Orbán’schen Charakterzüge.“

Orbán ist überzeugt, dass dieses Land und dieses Volk unfähig sind, über ihr Schicksal und ihre Zukunft zu entscheiden.

Kein Raum mehr für Demokratie?
In den letzten 20 Jahren erlitt die Fidesz dreimal eine Wahlniederlage. Nach jener von 1994 holte sie Orbán aus der liberalen Mitte heraus und definierte sie neu als rechtsgerichtete Partei. Er wechselte seine Weltanschauung und warf alle, die gegen den Paradigmenwechsel und seine zweifelhaften finanziellen Aktivitäten rebellierten, hinaus. Er begann systematisch, eine gefügige Maschinerie aufzubauen, die nach der Niederlage 2002 in eine wirksame Angriffswaffe umgebaut wurde. Doch erst nach der Niederlage 2006 funkionierte diese Waffe perfekt. Ziel war es, Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány und seine Koalition anzugreifen und alle Reformbestrebungen zu verhindern. So meinte der Vorsitzende der verbündeten christdemokratischen Partei im Januar 2010: „Unsere politische Zielsetzung war die Demontage von Ferenc Gyurcsány, und sie gelang uns zu 100 Prozent.“ Diese Bestrebung gilt heute, ausgestattet mit wesentlich tiefgreifenderen Machtbefugnissen, für sämtliche potenzielle Gegner – Personen wie Institutionen. Dazu gehören die Hetzkampagnen gegen kritische Intellektuelle und Künstler, die Anzeigen und Untersuchungen der Staatsanwaltschaft, deren Leiter durchwegs zum Fidesz-Kader gehören. Innerhalb der Partei finden weder Diskussionen statt noch Gegenstimmen Gehör. Dementsprechend fehlen diese auch in den staatlichen Behörden, auf den Leitungsebenen „unabhängiger“ Institutionen und vor allem in den öffentlichen Medien. Es gibt nur willige Vollstrecker, die teils aus Überzegung, teils existenziell von Orbán abhängig sind, der in seiner politischen Laufbahn nur eines gelernt hat: Der Zweck heiligt die Mittel – vor allem bei der Machterhaltung. Es gilt, sämtliche Möglichkeiten des Widerstandes im Keim zu ersticken.
Die ungarische Gesellschaft hatte in den letzten 20 Jahren keine Zeit und Möglichkeit (oder erkannte die Notwendigkeit nicht) zu lernen, wie sie sich gegen diese despotische Entwicklungen im nationalistischen Gewand wehren kann. Nun ist die Zeit gekommen, um das zu tun.

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