Ein David fürchtet sich nicht

2034

Hermann Beil, Chefdramaturg des Berliner Ensembles und lange Jahre Mitarbeiter von George Tabori, über den leisen Propheten des Theaters, der heuer seinen 100. Geburtstag feiern würde.*

Wir sind halt komische Leut“, mit dieser melancholischen Feststellung endet George Taboris kleiner, grotesker Totentanz Jubiläum, der im Grunde kein Totentanz ist, sondern, trotz aller Entsetzlichkeiten, ein Reigen voll Lebensfreude und voll traurigem Humor, einem Humor, an dem jede Gemeinheit zerschellt.

Es schien zunächst eher wie eine Laune des Zufalls, als ich vor drei Jahren die freundliche Einladung des Landestheaters Tübingen erhielt, an dieser Bühne „etwas“ zu inszenieren. Dieses „etwas“ entpuppte sich unversehens als ein sehr gegenwärtiges Theaterstück. Tabori schrieb es zwar vor zwanzig Jahren, und doch bedurfte es keiner Aktualisierung. Die Wahrheit des Stückes ist aber heute noch dringlicher geworden, denn Opfer und Täter, von denen das Stück erzählt, können ihre Geschichte weder vergessen noch vergessen machen.

Was ihn interessiert, sind Menschheitskonflikte. Er hat erfahren, wie zerbrechlich das Glück der Menschen ist.

Obwohl ich George Tabori nun schon seit zwei Jahrzehnten kenne und bei vielen seiner Uraufführungen in Bochum, Wien oder Berlin mitgearbeitet habe, lieben gelernt habe ich dieses Theatergenie im wahrsten Sinne des Wortes besonders durch die Arbeit mit den Tübinger Schauspielern. Indem wir uns auf sein Stück behutsam neugierig eingelassen haben, eröffnete sich uns dessen Geheimnis: eine Phantasie, in der ein ganzes Jahrhundert aufgehoben ist. Immer wieder frage ich mich, wie dieser Tabori das bloß macht. Ein lakonischer Satz, eine beiläufige Pointe, ein scheinbarer Kalauer, eine weise Erkenntnis an der Oberfläche versteckt. Und es entsteht daraus ein feines, dichtes Gewebe von Lebensrealitäten und Hoffnungstraum. Und alles auf einfachste Weise: durch das Spiel der Schauspieler. Tabori scheint mir die Verkörperung des Prinzips David auf dem Theater. Er ist tatsächlich ein königlicher Sänger, ohne imperiale Attitüde, ohne jedes Gehabe. In seine Geschichten begibt man sich gerne, ohne Furcht, auch wenn sie einen das Fürchten ehren.

Hermann Beil. Der feinsinnige Theatermacher war jahrzehntelanger Wegbegleiter von George Tabori.
Hermann Beil. Der feinsinnige Theatermacher war jahrzehntelanger Wegbegleiter von George Tabori.

Sein Theater will immer nur die Essenz des Theaters: also die Geste, das Spiel, das Gesicht des Schauspielers. Ein Anachronismus im elektronischen Zeitalter? Ja, Tabori ist der munterste Anachronismus – so wie das Theater selbst ein Anachronismus ist, das seine Grundform seit Anbeginn nicht verändert hat. Tabori ist der leise Prophet seiner Theateridee, und er ist ihr beharrlicher Verwirklicher obendrein. Als er für ein paar Jahre in Wien den Theaterdirektor spielte, nannte er sein Schauspielhaus sinnigerweise Der Kreis, weil ihm die Kreisform als die ideale Form des Miteinander erscheint: Es gibt kein Oben und Unten, kein Vorne und Hinten, es gibt nur ein unmittelbares Gegenüber. Und den Blick aufs Zentrum.

Er sagt: „Meine Heimat ist ein Bett und eine Bühne.“ Näher am Theater als Tabori kann wohl kein Theatermensch wohnen. Neben dem Theater am Schiffbauerdamm in Berlin haust er jetzt und blickt dem BE mitten ins Herz, zumindest aufs Dach. In einem Film von Eberhard Görner mit dem Titel Der Schriftsteller als Fremder hatte Tabori darüber philosophiert, wie wenig er irgendwo zu Hause sei. Ich vermute, daß dieser George Tabori nur zu Hause ist, wo man Menschen liebt, wo er Menschen lieben kann. Und wo man ihn braucht. Er ist ganz einfach im Theater zu Hause.

Und da er nur im Theater zu Hause ist, sitzt er, nicht bloß bei Proben, sondern sehr oft auch bei deinen Vorstellungen, in der ersten Reihe, fast schon auf der Bühne, süchtig, jede Phase des Spiels zu erleben. Vielleicht auch, um durch seine bloße Anwesenheit zu inspirieren. „Er blutet. Also lebt er“, heißt es in Warten auf Godot, ein Stück, das Tabori einst an den Münchner Kammerspielen inszeniert hatte. Tabori „blutet“ fürs Theater. Das Theater – sein Lebensmittel, sein einziges.

Sein ganzer Lebensweg ist wie ein Stationenweg, immer wieder durch merkwürdige Augenblicke, Begegnungen und Ereignisse vorangetrieben.

Natürlich frage ich mich, was ist nun das Geheimnis Taboris? Ob es gar so etwas wie ein System Tabori gibt? Zweifellos hat er ein System. Aber läßt es sich beschreiben, entschlüsseln? Auch anwenden? Ich erlebte viele Tabori-Arbeiten. Und dennoch vermag ich nicht zu sagen, auf welche Prinzipen das System Tabori sich gründet.

Tabori hat nämlich kein Prinzip. Er hat Phantasie, er ist neugierig. Neugierig auf menschliche Regungen, wißbegierig auf die Geheimnisse des Herzens. Seine Neugier läßt gewähren. Er beobachtet. Und er kann warten, weil er Geduld hat. Die Geduld eines Spielers, der sein Spiel bis zum letzten Moment auskostet.

Ich konnte erleben, daß auf diese Weise selbst noch aus den verrücktesten, unmöglichen Situationen etwas völlig Unerwartetes, Befreiendes entsteht. Es genügt ein Wort, eine beiläufige Bemerkung, und Tabori wirft alles bisher Probierte weg und baut es neu auf. Eine Probe ist eine Probe ist eine Probe – das ist Taboris einzige Maxime, für ihn ist alles Probe. Auch jede Vorstellung. Vor allem das Leben selbst. Ausprobierend geht er durch die Zeiten, immer den Neuanfang suchend. Seine theatralischen Erfindungen sind Lebenserfahrungen. Und weil es Lebenserfahrungen sind, bleiben diese Phantasien wie Bilder, wie archetypische Figuren im Gedächtnis haften. Kannibalen, Jubiläum, Mein Kampf, My Mother’s Courage, Goldberg-Variation, Requiem für einen Spion, Weisman und Rotgesicht, Ballade vom Wiener Schnitzel, Purgatorium oder Frühzeitiges Ableben – ein schier unerschöpflicher Kosmos von Figuren, die sich in schwarzen Komödien, grotesker Commedia dell’arte oder philosophischem Jux tummeln und immer auf die hamletsche Frage zielen: Was ist der Mensch?

Der shakespearische Augenblick wird ihm selbst immer wieder zufallen und ihn bewegen.

Vielleicht ist es gar nicht so ungewöhnlich, daß alle diese Figuren, die Tabori spielerisch entworfen hat, jeden begleiten, der sich diesen Figuren-Phantasien einmal hingegeben hat, weil in diesen Figuren unstillbare Sehnsucht nach einem glücklichen Zustand brennt. Es ist auch unsere Sehnsucht. „Wir Theatermenschen sind Fliehende. Wir retten uns in eine Art Utopie. Eine Theaterprobe spiegelt für kurze Zeit das ideale Leben wider. Menschen treffen sich. Sie haben ein gemeinsames Ziel. Sie arbeiten. Sie diskutieren. Und am Ende findet nicht der Tod, sondern eine Premiere statt.“ (Tabori)

Für jedes Leben – auch wenn es noch so rätselhaft chaotisch erscheint – kommt immer wieder die Stunde der Wahrheit. Bei Tabori freilich, so behauptete ich, setzte diese Wahrheitsstunde bereits zu seinem Lebensanfang ein. Und es war gewiß kein Zufall im Weltenplan, denn Tabori sagt, „es gibt keinen Zufall“.

Als er geboren wurde – er sollte ein Sonntagskind werden, er wurde ein Sonntagskind – herrschte in jenem Mai 1914 ein Kaiser – ein Kaiser, der obendrein den Titel „König von Illyrien“ führte, ein Königreich, das sogar noch heute existiert, nämlich auf dem Theater. Und trotz einer sich abzeichnenden Weltkatastrophe hatte dieser Kaiser, es war Franz Josef I., durchaus die Muße, gemeinsam mit einem englischen König, es war George V., der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft in Weimar beizutreten. Es schien, als wollten ihre Majestäten auf diese Weise zwischen dem großen William und dem kleinen Budapester Gyuri, der einstmals als britischer Staatsbürger in Diensten von His Majesty unterwegs sein wird, eine poetische Verbindung herstellen, was zweifellos gelang, denn der sogenannte shakespearische Augenblick, also die entscheidende Sekunde, die alles im Leben verwandelt, wird für Taboris Theater nicht nur charakteristisch sein, dieser Augenblick wird ihm selbst immer wieder zufallen und ihn bewegen. Sein ganzer Lebensweg ist wie ein Stationenweg, immer wieder durch merkwürdige Augenblicke, Begegnungen und Ereignisse vorangetrieben. Traumwandlerisch scheint dieser Tabori durch alle Gefährdungen hindurchzugehen. Die schönste Metapher für solche Prüfungen erfand Tabori in seiner Berliner Zauberflöten-Inszenierung mit der Feuer und Wasserprobe. Zwei Artisten – stellvertretend für Tamino und Pamina – absolvieren eine atemberaubende Trapeznummer: die Kunst vor dem tödlichen Abgrund ohne Netz. Ein kühnes Theaterbild, das zu Legende werden wird, denn Taboris Theaterarbeit schreibt Legenden. Und weil Legenden immer wieder erzählt werden müssen, so erzähle ich hier eine Geschichte, die wahrlich keine Anekdote ist:

Es war einmal ein alter Mann. Eines Abends kauerte er vor einem Theater. Im Foyer dieses Theaters wurde auf einem Erdhaufen vor ungefähr hundert Zuschauern Theater gespielt. Der Alte – ein Penner, ein Landstreicher, ein Obdachloser? – nahm von all dem kaum etwas wahr, er versank in sich und in seinem langen schäbigen Mantel. Er machte sich mit Straßenpassanten, die verständnislos ins Foyer stierten, weder gemein, noch ließ er sich vom Lichtglanze des Foyers anlocken. Er zog aber zwei Polizisten magisch an. Beide hoch zu Roß. Schon warfen die Uniformierten das Auge des Gesetzes auf jenen Landstreicher oder Penner, da stoppte ein Zuruf die Aktion. Die Polizei ließ ab und ritt von dannen. Der wundersame Alte aber sah sich um seine Szene geprellt. Seine Szene? Welche Szene? Was war passiert?

Ein Taxifahrer vom nahen Taxistand hatte den Berittenen zugerufen, der alte Herr, der sei doch bloß einer vom Theater. Und schon gab es keinen Grund mehr für einen behördlichen Zugriff. Der vermeintliche Penner – das war George Tabori.

An diesem Abend spielte er, eingesprungen für einen erkrankten Schauspieler, den Geist von Arnolds Vater, der am Schluss seines Stückes Jubiläum von der Straße ins Theater hereinkam, um seinen Sohn ein Brot zu bringen. (Jubiläum bedeutet die immerwährende Erinnerung des 30. Januar 1933, der Tag von Hitlers Machtergreifung, ein Tag, der auch für diesen Tabori Folgen haben wird.) Hätte nun der Taxistand just an diesem Abend nicht auch einmal leer sein können? Was wäre wohl entstanden, wenn niemand der Polizei den Schein enthüllt hätte? Die totale Vermischung von Leben und Theater, vor der Tabori nicht die geringste Scheu hat, sie hätte zum Ereignis werden können. Bei Tabori ist alles möglich. Sein Möglichkeitssinn kennt keine Grenzen. Das Mögliche ist bei ihm immer das Wirkliche: Der bittere Ernst ist ein Witz, der Witz bitterer Ernst.

Taboris Witz erzählt vor allem vom Sinn der Katastrophen des Lebens. An jenem Abend an der Königsallee vor dem Bochumer Schauspielhaus waren zwei Polizisten an diesem Witz beteiligt, und aus diesem Witz hätte sich beinahe eine sehr komische und vor allem eine lehrreiche Geschichte entwickelt. Ich weiß zwar nicht, ob jene Polizisten über Taboris Witz gelacht hätten, ich weiß nur, daß Tabori in dieser Schrecksekunde erwartungsvoll gelächelt hat, so wie er den Schrecksekunden unserer Wirklichkeit gemäß seinem Motto „Wir sind halt komische Leut“ immer ein Lächeln, immer ein Gelächter entgegengesetzt hat. Seine Steinschleuder ist das Lächeln. Freilich ein fein distanziertes Lächeln, keine Anbiederung. „Ich bin grundsätzlich ein Fremdling. Erst hat mich das gestört, aber alle Theatermacher, die ich liebe, waren Fremde“, sagte Tabori.

Deshalb vermag niemand George Tabori einzuschüchtern. Heilige Theaterkonvention unterläuft er, die unheiligen, also die Theaterintrigen, ignoriert er. In unserem hektischen, oft auch von Ehrgeiz zerfressenen Theaterbetrieb geht er wie ein seltener Vogel gelassen einher. Wie ein Vogel der Freude und Freundlichkeit. Einmal verkündete er schon lange vor Probebeginn jeden Tag aller Welt, daß die Proben nun endlich beginnen werden. Seine Proben! Als ob die Welt neu geschaffen würde. Für seine Phantasien gibt es ein Medium: die Schauspieler. In den Schauspielern findet der Autor Tabori seine Inspirationsquelle. Weil aber bei den Proben das Vater/Sohn-Spiel, das Herr/Knecht-Spiel, das Liebhaber/Geliebte-Spiel, das König/Narr-Spiel wechselseitig mit jeweils neuverteilten Rollen gespielt wird, ist Tabori wiederum auch das Medium der Schauspieler. „Ich werde mit dem Autor sprechen“, sagte der Regisseur Tabori stets, wenn er aufgefordert wurde, den Text zu ändern. Um dann, sich listig auf den Autor berufend, dem Spiel eine völlig neue Richtung zu geben. Oder störrisch auf seinem Text zu beharren. Wenn dieses Zusammenspiel ideal ist, so sind das Ergebnis schauspielerische Freiheit, ja Kühnheit – und herrliche Rollen, die ein Gesicht haben.

George Tabori ist der munterste Anachronismus – so wie das Theater selbst ein Anachronismus ist.

In einer spirituellen Arbeitsatmosphäre, die Tabori immer wieder zu erzeugen vermag, ist eben alles möglich – nur kein Zwang, nur keine Angst. Auch keine Angst vor dem Alter. „Degenerationswechsel“ – diese Wortfindung war Taboris Kommentar, mit der er der Parole vom allseits propagierten Generationswechsel amüsiert widersprach. Allein Tabori widerspricht, indem er unbekümmert, ja geradezu aufmüpfig weiterschreibt, weiterspielt, weiterarbeitet. Tabori philosophiert spielerisch. Und immer hat sein Theater etwas fabulös Welttheaterhaftes freilich genährt von melancholischem Witz, mit einer sanften Unverschämtheit, voll befreiendem Unernst – auch mit derber Lust an Geschmacklosigkeit als Mittel der Irritation.

George Tabori bei einer Lesung im Gemeindezentrum der IKG Wien, 1988.
George Tabori bei einer Lesung im Gemeindezentrum der IKG Wien, 1988.

Menschenbeglückungsprogramme sind  Tabori suspekt. Was ihn interessiert, sind Menschheitskonflikte. Er hat erfahren, wie zerbrechlich das Glück der Menschen ist. Um das zu zeigen, treibt er das Spiel der Figuren auf den äußersten Punk. Die Wirkung seiner Figuren, ihrer imaginativen Kraft kann man sich schwerlich entziehen.

In der Wiener Premiere von Mein Kampf übernahm Tabori einst für einige Vorstellungen die Rolle des Lobkowitz, ein Koch, der sich für den lieben Gott hält. Tabori trug eine hohe Kochmütze, und er spielte mit Sanftmut und Würde eines Sarastro, freilich auch eines komischen Saratro. Jener Lobkowitz begegnet im Männerasyl in der Wiener Blutgasse einem jungen Menschen namens Hitler. Ist es nicht eine kleine Gedankenspielerei wert, sich auszumalen, was der reale Tabori dem realen Hitler gesagt hätte, wenn die beiden sich jemals begegnet wären? Vielleicht hätte er ihm die richtigen Geschichten erzählt. Wie sagt doch Schlomo Herzl in Mein Kampf zum jungen Hitler? „[…] das schließlich ist der Sinn der Dichtung, ungeliebten Kindern Geschichten zu erzählen, bis es sie schaudert.“

Der schreckliche, der komische, der holde Schauder, der zu verwandeln vermag, gehörte zur Seele von Taboris Theaterstücken. Von Anbeginn.

Aber als George Tabori in Christoph Heins Einakter Mutters Tag (auf der Bühne des BE und inmitten von Zuschauern) einen alten Schriftsteller spielte – einen Emigranten, der nach Deutschland zurückgekehrt ist und wieder von Antisemiten bedroht wird –, da gab er etwas von seiner Seele preis. Er fürchtet sich nicht. Ein David fürchtet sich nicht. Nicht vor der Vergangenheit, nicht vor der Gegenwart, nicht vor der Zukunft. „Mach dir keine Sorgen“ – das ist George Taboris beschwörend begütigende Redewendung, wenn es Probleme gibt. Er löst sie stets auf sanfte Weise. Mit List, mit Geduld, mit Beharrlichkeit. Gerade zu seiner Beharrlichkeit gehört es, immer wieder einen unerwarteten Vorschlag zu machen. Taboris Energie ist von poetischer Art. Und diese Energie macht seine Theaterstücke zu Zauberkraftwerken. Das ist meine Lektion aus dem Tübinger Jubiläum. Und ich verstehe nun, warum George Tabori ein Gedicht von Friedrich Höderlin seinem Stück Mein Kampf als Motto vorangestellt hat. Dieses Gedicht könnte durchaus ein Motto für all seine Theaterstücke sein:

Immer spielt ihr und scherzt? ihr müßt!
o Freunde! mir geht dies
In die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur.

Kurzer Nachtrag [August 2003]: George Tabori sitzt auf der leergeräumten weißen Probenbühne des Berliner Ensembles, wo er zuletzt seine Weltuntergangsgroteske Erdbeben-Concerte inszeniert hatte, und probiert mit sieben Schauspielerinnen und Schauspielern eine Geschichte, die jeder Boulevardzeitung eine fette Titelschlagzeile wert wäre, die auch das anrührende Happy End eines Märchens aufweisen könnte – wenn nicht, ja, wenn nicht der fremde Held der Geschichte, der Reisende, den lapidaren Satz „Ich bin ein Jude“ sagen würde. Allein dieser Satz verwandelt alles und kippt das lustigfeine Spiel, das Gotthold Ephraim Lessing unter dem Titel Die Juden vor über 250 Jahren geschrieben hat, in die bittere Realität unserer eigenen Geschichte. Ein Lustspiel über den Antisemitismus? Ist das nicht eine Ungeheuerlichkeit? Tabori ändert kein Wort des Textes, und doch kommt es mir bei den Proben insgeheim vor, als habe der junge Lessing sein Lustspiel im Grunde für den alten Tabori geschrieben, zumindest ist es so, wenn George aufspringt und den Schauspielern sagt: „Ich war toll, aber jetzt machen wir es anders.“

* Dieser Text von Hermann Beil erschien erstmalig 2002 in Das Davidprinzip, herausgegeben von Anton Hunger, im Eichborn Verlag. Für wina wurde der Text vom Autor überarbeitet.

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