David Vyssoki: Weder Opfer noch Täter hatten die Zeit, etwas aufzuarbeiten

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Gibt es ein spezifisch jüdisches Trauma? Kann man es vererben? Wie kann man damit umgehen? Fragen, die der Psychiater David Vyssoki beantworten kann. Er war Mitbegründer von ESRA und ist ein ausgewiesener Experte für psychische Traumata. Mit ihm sprach Anita Pollak.

WINA: Hat dich deine traumatische Kindheit zu deinem Lebensthema geführt?

David Vyssoki: Ja, auf jeden Fall. Ich bin als Vollwaise mit 14 Jahren von meinem Onkel Georg Muzicant (Anm: Vater von Ariel Muzicant) aus Czernowitz nach Wien geholt und in der Familie aufgenommen worden. Meine Eltern waren nach dem Holocaust von Pech und Krankheiten verfolgt und sind sehr früh gestorben. In Wien kam ich ins Theresianum, wo ich alles, sogar essen, neu lernen musste. Nicht nur die Sprache. „Hände hoch, Hitler kaputt“ war das einzige, das ich auf Deutsch konnte.

„Als Fremder hatte man nur die Möglichkeiten der Anpassung oder der Emigration.“

Würdest du aus deiner Familiengeschichte und deiner beruflichen Erfahrung sagen, dass man von einem spezifisch jüdischen Trauma sprechen kann?

❙ Die Idee eines spezifisch jüdischen Traumas fußt auf der gesamten soziologischen Situation der Menschen. Es gibt dazu sehr gute Studien aus Israel, die zeigen, dass Kinder von Überlebenden auch ohne Wissen der Geschichte ihrer Eltern davon spürbar betroffen sind.

Kann man also Traumata vererben?

❙ Psychologisch kann man sich das vorstellen. Das Interessantere ist aber der biophysiologische Aspekt. Bei Menschen mit einem chronischen Trauma ist der Cortisolspiegel deutlich reduziert. Chronisch traumatisierte Personen können auf ein akutes Trauma nicht adäquat reagieren, weil ihr Cortisolspiegel zu niedrig ist. Eines der wesentlichen Symptome ist die Angst. Es gibt auch das Phänomen der Retraumatisierung. Wenn die Kinder der Betroffenen ähnliche Situationen erleben, empfinden sie es so, als ob sie selbst Opfer wären.

In Israel sind ja die psychischen Probleme der „zweiten“ und „dritten Generation“ geradezu in Mode. Kann man wirklich in der Enkelgeneration der Opfer eine erhöhte Sensibilität, vielleicht sogar mit Krankheitswert nachweisen? 

❙ In Israel werden sehr viele Menschen dieser Generationen behandelt. Das Ergebnis ist, dass auch die Kinder permanent in einer Tradition des Traumas in irgendeiner Form leben. Oft können kleinste Ereignisse, z. B. wenn sie Polizisten oder Hunde sehen, Erinnerungen an traumatische Ereignisse auslösen, das habe auch ich bei Patienten immer wieder erlebt. Solche Ängste gibt man oft auch an die Kinder weiter.

Aber kann man durch Behandlung Traumata ganz verlieren? 

❙ Die Wahrscheinlichkeit, dass man das Gefühl, traumatisiert worden zu sein, ganz verliert, ist sehr gering. Man muss lernen, damit zu leben. Das bewirkt eine erfolgreiche Behandlung.

Mich erstaunt immer wieder, wie relativ gut Überlebende der Schoa unmittelbar nach dem Krieg funktioniert haben. Sie haben sich eine neue Existenz und Familien aufgebaut und vergleichsweise normal gelebt. Worauf weist das hin?

❙ Diese Generation war eine ganz andere. Das Wichtigste, das sie gelernt haben, war zu überleben. Und Menschen überleben Unwahrscheinliches. Überleben aber auch mit einem großen Geheimnis d. h. da ist eine Gesellschaft entstanden, in der sehr viel verdrängt wurde. Nach all den Jahren in der ESRA ist mir z. B. klar geworden, dass wir viel über Schuldgefühle gesprochen haben, aber nie über das Thema Rache. In der Literatur spielt jetzt Rache eine große Rolle. Eine meiner Patientinnen hat mich später gefragt, „warum haben wir nie über meinen Wunsch gesprochen, die Scheiß-Nazis zu ermorden?“

Wohin ist dieses Gefühl verdrängt worden, dass man trotzdem hier im Täterland leben konnte? Haben alle Überlebenden eine psychische Störung, oder ist Verdrängung vielleicht ein ganz gutes Mittel?

❙ Es ist kein gutes, aber ein notwendiges Mittel. Menschen, die hergekommen sind, haben vor allem eine Heimat gesucht. Als Fremder hatte man nur die Möglichkeiten der Anpassung oder der Emigration. Gemeinsam mit Alexander Emanuely habe ich eine Studie darüber gemacht, unter welchen Bedingungen es möglich ist, als schwer traumatisierter Mensch zu überleben. Eine der wichtigsten ist, anerkannt zu werden. Von der Gesellschaft, von Freunden etc. Deshalb waren diese Menschen unter enormem Leistungsdruck, um anerkannt zu werden. Ihre Kinder gingen schon auf gute Schulen und wurden anerkannte Bürger.

Wenn heute irgendwo ein Unglück passiert, werden überlebende Opfer oder auch Angehörige sofort psychologisch betreut. Damals wurden die Menschen, die aus den KZs kamen, völlig sich selbst überlassen. Wie ist das vorstellbar?

❙ Es hatten nach dem Krieg weder die Opfer noch die Täter Zeit, etwas aufzuarbeiten. Wir haben auch mit vielen Tätern gearbeitet. Außerdem gab es noch keine therapeutischen Methoden. Was geschehen war, hatte damals alle überfordert. Aus diesen Überlegungen wurde auf Initiative von Ari Muzicant 1994 schließlich ESRA von uns, Alex Friedmann und einer kleinen Therapeutengruppe, gegründet.

David Vyssoki
1948 geboren, wuchs als Sohn rumänischer Holocaust-Überlebender in Czernowitz auf. Nach dem Tod seiner Eltern kam er 1962 zu seinem Onkel Georg Muzicant nach Wien. Nach seinem Medizinstudium absolvierte er seine Facharztausbildung u. a. in London und Rom und war danach als Psychiater in Wien tätig. Von 1994 bis 2011 leitete er das von ihm mitgegründete psychosoziale Zentrum ESRA. Seither arbeitet der Vater zweier Söhne als Psychotherapeut in Wien. 

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