Der 10. Mann vom Teleki tér

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Gemeinsames Gebet. Die Brüder Mayer renovierten mit ihren privaten Mitteln gemeinsam mit Freunden die beiden Räume des Stiebls. / © Daniel Kaldori

Zu einer berührenden Zeitreise wird der Besuch im letzten Stiebl von Budapest. Von Marta S. Halpert

Eine lang gestreckte Friedhofsmauer begrenzt ein großes, offenes Feld, auf dem nichts mehr wächst. Doch früher einmal blühte es auch hier: Der Teleki tér war im 19. Jahrhundert der größte Flohmarkt von Budapest. Getragene Kleider und Hausrat wurde von zahlreichen aus der k.u.k. Monarchie zugezogenen Händlern angeboten, davon waren fast siebzig Prozent Juden. Jetzt ist es ein leerer, verwahrloster Platz im 8. Bezirk, der Josefstadt (Józsefváros). Die Armut trifft heute gleichermaßen Jung und Alt: Sogar das Lidl-Einkaufssackel, das eine junge Frau trägt, ist nach mehrfachem Gebrauch zerschlissen.

Im Hof des Hauses Nummer 22 zählen wir sieben Eingänge zu ebenerdigen Wohnungen. Gábor Mayer geht auf eine unscheinbare Türe zu, ohne Kamera und ohne Mezuzah, sperrt sie auf: Geblendet von nackten Glühbirnen erblicken wir einen Innenraum, der zuerst wie eine Filmkulisse wirkt. „Das ist das letzte von etwa 20 Stiebln, die hier rund um den Teleki tér existierten“, erzählt der 31-jährige Computerprogrammierer. Ihm und seinem älteren Bruder András ist es zu danken, dass es dieses Juwel aus der Vergangenheit überhaupt noch gibt.

In Erinnerung an das Vermächtnis des väterlichen Freundes wird der Tschortkower Klojz mit Leben erfüllt.

Das Stiebl (aus dem österreichischen „Stüberl“) war meist ein Gebetsraum innerhalb einer Wohnung, da es zum täglichen Gebet ausreicht, wenn zehn Männer zusammenkommen. Und als dringend benötigter „zehnter Mann“ stieß auch András Mayer, der nicht religiös lebte, auf dieses letzte erhaltene Stiebl. „Mit den jüdischen Menschen verschwanden auch die Gebetsräume, aber das Wenige, das man an rituellen Gegenständen (Sidurim, Talajsim), Erinnerungstafeln und sogar Thorarollen gerettet hatte, wurde hier zusammengetragen.“ So prangt eine Gründungsurkunde aus dem Jahre 1927 mit den 28 Namen der ursprünglichen Mitglieder an einer Wand.

Der „Tschortkower Klojz“ (Klojz stammt vom lateinischen claustrum) in der Nummer 22 wurde von Chassidim aus Czortków gegründet, einer Stadt im Westen der Ukraine. Von dort stammt nicht nur die berühmte rabbinische Dynastie von Samuel und Pinchas Horowitz. Auch Mayer Amschel Rothschild (1744–1812), Begründer der Bankiersfamilie, und der österreichische Schriftsteller Karl Emil Franzos (1848–1904) wurden in diesem Schtetl geboren.

Vermächtnis als Mission

„Jakab Gláser war wie ein Großvater zu uns, der sich noch mit 92 Jahren, also bis zu seinem Tod im Jahr 2005, um dieses Stiebl aufopfernd kümmerte“, erzählt Gábor, der seit mehr als zwei Jahren gemeinsam mit seinem Bruder und einer engagierten kleinen Gemeinde das Überleben dieses Stiebls garantiert. Sie sehen es als ihre Mission an, in Erinnerung und als Vermächtnis des väterlichen Freundes diesen Ort nicht nur museal zu erhalten, sondern mit Leben zu erfüllen. Die Brüder Mayer renovierten mit ihren privaten Mitteln gemeinsam mit Freunden die beiden Räume des Stiebls und organisierten aus Spenden eine kleine glatt-koschere Kücheneinrichtung, um am Schabbes und an den Feiertagen die Betenden und Gäste bewirten zu können. Sie suchen aktiv auf der ganzen Welt nach Familien, deren Vorfahren den „Tschortkower Klojz“ kannten. „Wir haben jemanden in den USA gefunden, der seine Bar Mitzwa noch hier gefeiert hat. Vielleicht wird es mit unserem Rabbiner Shalom Hurwitz bald wieder hier eine Bar-Mitzwa-Feier geben.“ Dann wird es am Teleki tér weniger traurig sein.

www.budapestshul.com

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