Der lange Atem der „Arisierung“

Mit dem im Herbst letzten Jahres erschienenen Band Angeschlossen und gleichgeschaltet hat der Wiener Jurist und Historiker Klaus Christian Vögl eine Studie vorgelegt, die sich ohne Weiteres als neues Standardwerk zur Geschichte der Wiener Kinos bezeichnen lässt.

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Klaus Christian Vögl: Kino in Österreich 1938–1945. Böhlau Verlag 2018, 447 S., € 62

Dabei hat alles quasi mit einem unglaublichen Zufall der Geschichte begonnen: Vögl hatte 1978 an der Wirtschaftskammer Wien zu arbeiten begonnen und war 1981 zum Geschäftsführer der Fachgruppe der Lichtspieltheater ernannt worden. „Das war für mich eine große Freude, da ich mich immer schon für Kinos interessiert hatte und dieses Wissen nun auch beruflichen einbringen konnte“, erzählt der studierte Jurist. Dass er schon bald in den neuen Büroräumen auf dem Stubenring einen Fund machen würde, der sein Leben verändert, war ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst. Der junge Fachgruppenleiter entdeckte nämlich „im Besprechungszimmer einen riesigen grünen Stahlschrank, der offensichtlich noch aus der Vorkriegszeit stammte. Der Schrank hatte wie durch ein Wunder mehrere Übersiedelungen überlebt“ und beinhaltete blaue und orange Mappen. „Die blauen Mappen umfassten Akten ab 1945, die orangen Mappen enthielten Kinoakten der Reichsfilmkammer, die 1945, wohl aus Versehen, nicht vernichtet worden waren. Und hier hat dann meine Arbeit angesetzt“, erinnert sich Vögl. Er begann, neben seiner Arbeit als Abteilungsleiter und einem weiteren Studium der Geschichte, mit der Sichtung und Aufarbeitung der in insgesamt 200 Konvoluten enthaltenen Personalakten.

»Die ‚Arisierung‘ der Kinos war durch zahlreiche Rechtsvorschriften seit der Okkupation vorbereitet worden.«
Klaus Christian Vögl

Bald schon stellte sich heraus, dass bis auf 20 kurz nach Kriegsende entnommene Akten – „man nannte sie später in der Branche die sog. ‚Schmalztiegelakte‘, da die Personen, die ihre Akten holten, diese meist gegen Lebensmittel- und Sachspenden bekamen“, erläutert der Historiker die damalige Situation – nahezu alle Unterlagen des NS-Regimes zu den Wiener Kinobetrieben und einem Großteil der österreichischen Kinos erhalten geblieben waren. „Ich habe alle Archive in Österreich besucht, in denen ähnliche oder Pendantakten zu finden hätten sein können. Doch tatsächlich fanden sich alle Akten, mit Ausnahme von Vorarlberg und Tirol, in diesem Schrank, dessen Inhalt sich heute im Bestand des Wiener Stadt- und Landesarchivs befindet. Und selbst in Deutschland war nichts zu finden.“

Die Aufarbeitung des zeithistorisch einzigartigen Aktenbestandes hat nicht nur über 35 Jahre gedauert. Es folgten eine Dip­lomarbeit und eine geplante Dissertation, statt der schließlich das vorliegende knapp 450 Seiten starke Buch entstand.

Rund 50 Prozent der Wiener Kinos wurden „arisiert“. Vögls Studie bietet nach einem ausführlichen historischen Rückblick – „da man die Situation 1938 ja nicht ohne die Jahre davor betrachten kann“ – die detaillierte Analyse der für die österreichischen Kinos relevanten rechtlichen Grundstrukturen der NS-Diktatur. „Dabei geht es um den ‚Anschluss‘ und den sog. ‚Umbruch‘ in der ‚Ostmark‘, und im Kern geht es dann natürlich um die ‚Arisierungen‘.“ Dieser ist einer der zentralen Teile des Bandes gewidmet. „Und im letzten Teil gehe ich dann noch im Detail auf die Betriebsführung von Kinos während des NS-Regimes ein – vom Jugendschutz über Arbeitsrecht bis hin zur Materialbeschaffung.“ Doch auch den langen Atem der „Arisierung“ macht Vögl anhand ausgewiesener Fallbeispiele wie etwa jenem des heute noch bestehenden Haydn Kinos, dem 2000 geschlossenen Elite Kino in der Inneren Stadt oder dem bis 2002 existierenden Kolosseum Kino deutlich. „Da es sich hier um eine jüdische Familie handelte, von der gleich mehrere Mitglieder das Kino mit leiteten, war dies ein größerer und komplexerer Fall“, den der erfahrene Jurist mit nahezu kriminalistischer Verve aufgearbeitet hat.

Aber auch dem Vorgehen der öffentlichen Hand nach Kriegsende widmet sich Vögl mit kritischem Blick, etwa wenn es um die oft langjährigen Rechtsstreitigkeiten zwischen Kinobetreibern und der bis in die 90er-Jahre bestehenden Kiba geht, die bis zum Inkrafttreten des neuen Kinogesetzes auf Initiative des damaligen Bürgermeisters Helmut Zilk einen beachtlichen Teil an Wiener Kinokonzessionen innehatte – ein großer Teil davon aus ehemals jüdischem Besitz.

Dass Vögl all diese Daten, zum größten Teil zum ersten Mal in der Geschichte der Wiener Kinos, erfasst, systematisiert und auch für eine breite interessierte Leserschaft informativ und spannend zusammengefasst hat, ist ein wahres Meisterstück. „Fast alles geht aus den Unterlagen hervor, die ich in dem von mir entdeckten Schrank vorgefunden habe“, betont der heute immer noch an der Wirtschaftskammer tätige Experte, der sich auch mit Publikationen über Veranstaltungsrecht sowie zahlreichen Lehraufträgen einen Namen gemacht hat. Vor allem aber ist Vögl bis heute ein enthusiastischer Begleiter der Interessen der österreichischen Kinounternehmer, denen er auch seine herausragende Studie gewidmet hat. 

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