Der räuberische Mob des Frühjahrs

Die „wilden Arisierungen“ der Wiener Nazis überraschten nach dem „Anschluss“ 1938 mit ihrer Heftigkeit sogar die Berliner Behörden.

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März 1938. Schaufenster eines Modehauses in Klagenfurt mit dem Hinweis „Wegen Arisierung geschlossen“. © ÖNB-Bildarchiv/picturedesk.com; Paul Almasy/akg-images/picturedesk.com

Paul Grosz erzählte scheinbar kühl und distanziert von den Frühjahrstagen 1938. Und doch konnte der feingliedrige Herr mit dem grauen Bärtchen seine Emotionen nicht ganz verbergen. Das kleine Kürschnergeschäft seines Vaters Leopold in Wien Neubau war im Mai von einem Wiener Nazi kalt enteignet worden.

Es war ein Konkurrent aus dem Nachbarbezirk, der eines Tages unangemeldet in der Tür stand. Er trug eine braune SA-Uniform und hielt einen Zettel mit einigen Parteistempeln in der Hand. Er sei jetzt der neue Chef hier, nannte sich gleich kommissarischer Leiter. Zwar sollte er dann in den kommenden Monaten das Geschäft der Familie Grosz nicht wirklich unternehmerisch führen, bediente sich aber bei seinen Besuchen stets in der ohnehin nicht gerade üppig gefüllten Kasse. Und er packte regelmäßig Ware ein, um sie in sein eigenes Geschäft mitzunehmen.

„Dabei haben wir sogar Glück gehabt“, so Paul Grosz Jahrzehnte später. „Er hat niemanden geschlagen. Er hat uns nur in aller Menschlichkeit ausgeraubt.“ Grosz sollte die NS-Herrschaft als U-Boot in Wien überleben, wanderte 1950 in die USA aus, kehrte fünf Jahre später zurück und übernahm die Kürschnerei seines Vaters in Margareten. Von 1987 bis 1998 war er Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde. Grosz starb 2009 in Wien.

Viele Wiener Nazis hatten keine Wochen gebraucht, um sich jüdisches Eigentum unter den Nagel zu reißen. Kaum waren die resignativen Worte von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg im Radio am Abend des 11. März verklungen („Gott schütze Österreich“), begannen auch schon die Raubzüge. Den Einzug der deutschen Truppen und die Übernahme der Polizei durch Heinrich Himmler am nächsten Tag konnten sie nicht mehr abwarten. Und auch um den Schabbatabend – der 11. März war ein Freitag – scherten sie sich nicht. „Wer immer sich eine Hakenkreuzarmbinde über den Arm streifte oder sich als Gestapobeamter ausgab, konnte Gewalt über die zu Freiwild gewordenen Juden Wiens ausüben“, schreibt Carl Zuckmayer zu diesen Tagen.

„Dabei haben wir sogar Glück gehabt.
Er hat niemanden geschlagen. Er hat uns nur in aller Menschlichkeit ausgeraubt.“
Paul Grosz

In späteren NS-Protokollen hieß es euphemistisch, es sei zu „Beschlagnahmungen und Hausdurchsuchungen“ gekommen. In Wahrheit wurden schon in dieser Nacht vom Mob jüdische Wohnungen heimgesucht, Wertgegenstände und Kleider geraubt, bereits Bewohner mit Gewalt hinausgeworfen und delogiert. In den nächsten Tagen zog der Mob dann auch gegen Geschäfte los. Es gab ziellos agierende Räuber, andere hielten schon länger vorbereitete Listen in den Händen, nach denen sie systematisch jüdische Adressen abarbeiteten.

„Neu eröffnet!“: Zeitungsinserat über
ein „arisiertes“ Modegeschäft in Wien
Neubau. © ÖNB-Bildarchiv/picturedesk.com;
Paul Almasy/akg-images/picturedesk.com

So besorgten sich etwa SS und SA innerhalb weniger Tage einen neuen Wagenpark, indem sie die Fahrzeuge jüdischer Besitzer beschlagnahmten. Andere Uniformierte räumten – von der Polizei ungehindert – Geschäfte aus. So berichtete etwa ein britischer Journalist, dass vor dem Kaufhaus Schiffmann in der Taborstraße eine Reihe von LKWs vorgefahren sei, „auf die die SA-Leute alle Arten von Konfektionswaren verluden“. „Sämtliche Geschäfte der Innenstadt werden heimgesucht“, schreibt Claudia Erdheim in ihrem Roman Längst nicht mehr koscher: „Das Kleiderhaus Gerstl, das Teppichgeschäft Schein, das Juweliergeschäft Scherr, das Herrenkleidergeschäft Katz.“ Parallel zu den Diebstählen und Beschlagnahmungen begannen die so genannten „Reibepartien“, bei denen Jüdinnen und Juden umringt von johlenden und feixenden Wienern die Propagandakruckenkreuze der Vaterländischen Front von den Gehsteigen wegputzen mussten.

„Dimension und Charakter der antijüdischen Maßnahmen in der ‚Ostmark‘ im Frühjahr 1938 unterschieden sich deutlich von Verfolgungsschritten im ‚Altreich‘“, schreibt der Historiker Hans Saf­rian in seiner Studie Beschleunigung der Beraubung und Vertreibung. Zur Bedeutung des „Wiener Modells“ für die antijüdische Politik des „Dritten Reiches“ im Jahr 1938. In Deutschland habe die Diskriminierung und Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft in einem vergleichsweise langsamen bürokratischen Prozess stattgefunden, mit Verzögerungen und auch mit rechtlichen Bedenken.

Radikalismus eindämmen. „Im ‚angeschlossenen‘ Österreich wurde das Tempo der Verfolgung von zehntausenden einfachen ‚Partei- und Volksgenossen‘ diktiert“, analysiert Safrian, „die ohne und manchmal gegen Befehle aus Berlin handelten und sich um die bestehende Gesetzeslage wenig kümmerten. Aktionen auf eigene Faust waren allgegenwärtig und mit teils massiver Gewaltanwendung gegen Personen, mit Erpressung und verschiedenen Methoden der direkten und indirekten Beraubung verbunden.“

Sogar die nicht gerade zimperliche Parteizeitung Völkischer Beobachter schrieb im April 1938 über die Wiener Situation, man müsse „den überschäumenden Radikalismus eindämmen“, denn die „Untadeligkeit und Reinheit der Bewegung“ sei dadurch bereits gefährdet. „Deutschland ist ein Rechtsstaat“, so das Nazi­propagandablatt. „Das heißt: In unserem Reiche geschieht nichts ohne gesetzliche Grundlage […]. Pogrome werden keine veranstaltet, auch nicht von der Frau Hinterhuber gegen die Sarah Kohn im dritten Hof, Mezzanin, bei der Wasserleitung.“

Laut Historiker Safrian versuchten die neuen Wiener NS-Behörden, die Übergriffe zurückzudrängen, allerdings zunächst „halbherzig“ und „mit wenig Erfolg“. Funktionäre und Mitläufer holten sich bei den Juden, was sie zusammenraffen konnten. Und die Ausschreitungen waren so schlimm, dass sogar die Berliner Behörden nervös wurden. Der Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, Josef Bürckel, sprach später sogar von „einer gewissen Trübung“, die „die herrliche Geschichte des Nationalsozialismus“ erfahren habe, „durch das, was sich in den ersten Wochen an Raub und Diebstahl ereignet hat“.

Nun handelten die NS-Politiker schnell. Schon am 26. April erließen sie in Berlin die „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“, und zwar mit Geltung nicht nur für das angeschlossene Österreich, sondern für das gesamte Reich. Juden mussten jeglichen Besitz melden, der 5.000 Reichsmark überstieg. Dafür zuständig wurde ab Mai die „Vermögensverkehrsstelle für Juden“. Ab dann begann die staatlich sanktionierte Enteignung, auch die systematische Übernahme der größeren Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen. Dennoch sollten die wilden „ungesetzlichen“ Arisierungen noch monatelang weitergehen. Die Behörden fuhren einen Schlingerkurs zwischen Wegschauen und Sanktionieren, sie wollten auch ihre wilden Gefolgsleute in der „Ostmark“ nicht ganz verprellen.

 

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