Der vergessene Judenretter

Mehr als eintausend jüdischen Verfolgten ermöglichte der brasilianische Diplomat Souza Dantas die Flucht aus dem besetzten Frankreich.

1909
© yadvashem.org

Ein spendabler, genießerischer Bonvivant im Paris der 1930er-Jahre mutiert im Vichy-Regime 1940 zu einem Mann, der Kopf und Kragen riskiert, um rund eintausend jüdischen Menschen das Leben zu retten. Die Rede ist vom brasilianischen Diplomaten Luis Martins de Souza Dantas, der 2003 von Yad Vashem als Gerechter unter den Völkern ausgezeichnet wurde. In der breiteren Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, ist er jedoch unvergessen von denen, die dank seiner Visa der Deportation und so dem sicheren Tod entrinnen konnten.

Einem Nachfahren der Geretteten, dem Historiker Fábio Koifman, ist es zu danken, dass die Person des Botschafters und seine Taten seit ein paar Jahren auch dokumentiert sind. Koifman arbeitet in der Casa Stefan Zweig, im letzten Wohnhaus des österreichischen Schriftstellers und dessen Frau in Petrópolis. Eine Gruppe interessierter Privatleute hat hier 2012 ein Museum zum Gedenken an Zweig errichtet, das auch Exilforschung betreibt. Fábio Koifman leitet das Projekt Gedenkstätte des Exils zu Ehren all jener, die von 1933 bis 1945 in Brasilien Zuflucht fanden.

»Er wollte nicht Teil der Barbarei sein: Daher missachtete er strenge Befehle des Außenministeriums und stempelte tausende Pässe mit dem Zeichen der Errettung.«
Alberto
Dines, Präsident der Casa Stefan Zweig

Drei Jahre lang recherchierte der Historiker für sein Buch Quixote nas Trevas (Quixote im Dunkeln) über den brasilianischen Judenretter. Er sammelte circa 7.500 Dokumente, zeichnete 30 Stunden Interviews auf und führte unzählige Gespräche. „Meine Neugierde wurde in dem Interview mit Raphael Zimetbaum geweckt, der einer der Nutznießer dieser Visa war, die der Botschafter ausgestellt hatte. Zimetbaum war erstaunt und betrübt, dass die Aktionen des Wohltäters so sehr in Vergessenheit geraten sind.“ Mit der Ausstellung Souza Dantas – Quixote nas Trevas und der Vorführung des Films Querido Embaixador von Luiz Fernando Goulart (Portugiesisch mit englischen Untertiteln) im Lateinamerika-Institut in Wien hat der Botschafter der Republik Brasiliens, Ricardo Neiva Tavares, in Österreich die Aufmerksamkeit auf diesen Gerechten gelenkt.

„Der brasilianische Botschafter in Vichy das Hauptquartier der französischen Kollaborationsregierung während der Nazi-Besatzung wusste, dass ohne ein brasilianisches Visum all die verängstigten Menschen in Konzentrationslagern landen würden. Er wollte nicht Teil der Barbarei sein: Daher missachtete er strenge Befehle des Außenministeriums und stempelte tausende Pässe mit dem Zeichen der Errettung“, so Alberto Dines, Präsident der Casa Stefan Zweig sowie Biograf des Literaten.

Doch wer war dieser Luis Martins de Souza Dantas? Er wird 1876 in Rio de Janeiro in eine adelige Familie geboren und schließt 20 Jahre später sein Jusstudium ab. Er tritt ins Außenamt ein und geht bereits 1897 als Botschaftsattaché nach Bern; es folgen Berufungen nach St. Petersburg, Rom und Buenos Aires. Nach einem kurzen Zwischenspiel als Staatssekretär im Außenministerium sowie als dessen Leiter folgen weitere Stationen als Gesandter in Brüssel und erneut in Rom. Zwei Jahre vertritt er die brasilianische Regierung beim Völkerbund. Von Dezember 1922 bis zum 10. März 1943 amtiert er als Botschafter in Paris beziehungsweise Vichy.

Als Junggeselle in Paris ist der charmante und gebildete Mann Stammgast in der Comédie-Française, daher werden ihm auch etliche Romanzen mit Schauspielerinnen nachgesagt. Er selbst nannte nur die französische Schauspielerin Madeleine Carlier die „Liebe seines Lebens“. Trotzdem ging er 1933 im Alter von 57 Jahren eine Vernunftehe mit der Witwe Elise Mayer Stern ein. Die Amerikanerin in Paris war sehr vermögend, da ihr verstorbener Mann zu den Gründern von Levi Strauss & Co. zählte. Der Bruder von Elise hatte die bankrotte Tageszeitung The Washington Post gekauft, daher war die langjährige Verlegerin des Blattes Katharine Graham die Nichte von Mayer Stern. Souza Dantas Ehefrau schaffte es noch in die USA, bevor Paris von den Nazis besetzt wurde. Das Paar sah sich erst Ende 1944 wieder.

„Der Botschafter war ein großzügiger Gastgeber, der sein offizielles Budget und alle seine Einkünfte für die illustren Freunde aus dem Kulturleben ausgab“, so beschrieb ihn der berühmte jüdische Poet Blaise Cendrars, der eng mit Marc Chagall und Fernand Léger befreundet war und gerade noch der Gestapo entkommen konnte.

Doch am 16. Juni 1940 wird Paris von den deutschen Truppen besetzt und das gute Leben ist auch für den lebenslustigen Diplomaten vorbei. Die deutsche Militärverwaltung teilte das französische Staatsgebiet in eine besetzte und in eine unbesetzte Zone. Nord- und Westfrankreich war in der Hand der Nazi-Truppen, während sich das mit Hitler verbündete Vasallen-Regime des Marschall Henri Philippe Pétain in Frankreichs Süden und Osten im Kurort Vichy ansiedelte und so 40 Prozent des Staatsgebietes unter seine Kontrolle brachte.

Wie einige andere Botschaften übersiedelte auch die brasilianische in die so genannte „freie Zone“ nach Vichy. Da es in dieser provisorischen Botschaft kein Konsulat gibt, übernimmt Souza Dantas auch diese Agenden. Als sich der Druck des Vichy-Regimes auf die Juden verstärkt, kommen täglich Juden in die Botschaft, um Ausreisegenehmigungen zu erbitten.

Von Juni bis Dezember 1940 stellt Souza Dantas hunderte von lebensrettenden Visa aus. „Er weigerte sich, Geld oder Wertsachen anzunehmen, ob arm oder reich, er stempelte Diplomatenvisa in die Pässe der Verzweifelten“, schreibt Koifman in seinem Buch. „Seit ich mich damit beschäftige, habe ich 475 Visabesitzer ausfindig machen können, die effektiv in Brasilien eingereist sind. Mindestens noch einmal so viele nutzten aber die Visa nur, um aus dem Land zu kommen. Sie entschieden sich dann auch für andere Des­tinationen.“

Die brasilianischen Behörden unter Diktator Getúlio Vargas änderten 1941 ihre Politik, und Vargas selbst erteilte Dantas den Befehl, die Ausstellung der Visa sofort einzustellen. Der Botschafter widersetzte sich dieser Anweisung und datierte die Papiere zurück vor das Datum des offiziellen Verbots. Zusätzlich führte er die brasilianischen Einwanderungsbehörden hinters Licht, indem er französische Anmerkungen, die diese nicht verstanden, auf die Dokumente kritzelte, um ihnen einen offiziellen Anschein zu geben.

Unter massiven Druck kam Souza Dantas, als 1941 behördliche Untersuchungen gegen ihn eingeleitet wurden, unter dem Verdacht, irreguläre Visa ausgestellt zu haben. In seinem Verteidigungsschreiben an Außenminister Osvaldo Aranha schrieb der Botschafter: „Ich erinnere daran, dass es keinen Konsul an der Botschaft gab und ich sofort die Pflicht übernehmen musste, Menschenleben zu retten angesichts der größten Katastrophe, die die Menschheit bisher erlebt hat. Mit dem noblen Herzen aller Brasilianer habe ich getan, was der Kaltherzigste auch getan hätte, geleitet von den elementaren Gefühlen christlichen Mitgefühls.“ Die Untersuchungen begannen einige Monate bevor die brasilianische Botschaft in Vichy im November 1942 von der Gestapo gestürmt wurde. Souza Dantas leistete erbitterten Widerstand gegen seine Festnahme, dennoch wurde er verhaftet und nach Bad Godesberg deportiert. Dort blieb er insgesamt 14 Monate, bis März 1944, in Haft.

Nach seiner Freilassung sah man ihn einige Male im brasilianischen Fernsehen, sonst bekam er nicht viel Aufmerksamkeit, erst wieder nach seinem Tod 1954 in Paris. „Er war so uneitel und bescheiden, er hat keinerlei Aufzeichnungen seiner Wohltaten hinterlassen“, erläutert Koifman. „Der Botschafter mutierte in kurzer Zeit von einem von der Verurteilung durch seinen eigenen Staat Betroffenen zu einem nationalen Kriegshelden. Gegen den Befehl zu handeln, war nicht mehr eine isolierte humanitäre Geste, sondern ein Akt der moralischen Integrität des Diplomaten.“

Ohne Ansehen der Person rettete er Leben und nicht wenige wurden in der Folge zu Berühmtheiten, wie z. B. der Wiener Felix Rohatyn, späterer US-Botschafter und Ökonom, der 12 Jahre alt war, als Souza Dantas seiner Familie die Ausreise von Frankreich über Marokko und Lissabon nach Brasilien ermöglichte.

„Wir verbrachten ein Jahr dort, bis wir nach New York fahren konnten“, erinnert sich Rohatyn, der erst mit 76 Jahren erfuhr, wer für sein Visum verantwortlich gewesen war. Der erfolgreiche Theatermann Zbigniew Ziembinski zählte ebenso zu den Geretteten wie der Impresario Oscar Ornstein und der amerikanische Kunsthändler, Sammler und Galerist Leo Castelli. Den von der Verhaftung bedrohten deutschen Schriftsteller und Journalisten Ernst Feder, der die bekannteste Exilzeitung, das Pariser Tageblatt mitbegründete, rettete Dantas ebenso wie Fritz Feigl, den österreichischen Chemiker, der an den Universitäten von Wien und Rio de Janeiro gelehrt hatte. Feigl gilt als Entdecker des analytischen Tüpfeltests und hat somit zur Entwicklung einiger Schnelltests beigetragen.

Nach seiner Pensionierung wurde Souza Dantas gebeten, die brasilianische Delegation bei der ersten Generalversammlung der Vereinten Nationen zu leiten. Er war der erste Brasilianer, der vor den Vereinten Nationen gesprochen hat.

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