„Die letzte Lotterie ums Überleben“

Der kanadische Autor Max Morgan-Witts lieferte die Fakten für Daniel Kehlmanns Dokudrama über die Irrfahrt der 937 Juden auf der St. Louis im Jahr 1939.

1877
Morgan-Witts. „Das war die letzte Lotterie ums Überleben.“ © Reinhard Engel

Die heutige politische Lage ist vielleicht mit 1939 nicht vergleichbar, aber die Lage von Menschen, die auf einem Schiff zusammengepfercht sind und die keiner an Land lassen möchte, ist die gleiche“, sagt Daniel Kehlmann über sein Dokumentardrama Die Reise der Verlorenen. „In so einer Situation geht es nicht um abstrakte Analysen der geopolitischen Lage, sondern um simple Empathie.“ Kehlmann hat sich in seinem dritten Auftragswerk für das Theater in der Josefstadt einer wahren Geschichte angenommen, die auf dem Sachbuch Reise der Verdammten (Voyage of the Damned) von Gordon Thomas und Max Morgan-Witts basiert.

Kehlmann hat nichts dazu erfunden, die Irrfahrt der St. Louis birgt genug Dramatisches in sich. Es sollte eine Fahrt in die Freiheit werden: Im Mai 1939 bekommen 937 deutsche Juden die „Erlaubnis“, das NS-Reich zu verlassen. Die mit Touristenvisa für Kuba und größtenteils mit gültigen Papieren der US-Einwanderungsbehörde ausgestatteten Juden besteigen in Hamburg die St. Louis, ein Passagierschiff der Reederei HAPAG. Obwohl die Schifffahrtsgesellschaft sie zynisch beraubt – sie nötigt ihnen den vollen Preis für ein Rückfahrtticket ab –, sind die Flüchtenden noch voller Hoffnung. Die schwindet gänzlich, als die kubanischen Behörden und im weiteren Verlauf auch die US-amerikanische Regierung den Juden nicht erlauben, von Bord zu gehen. US-Präsident Franklin D. Roosevelt beruft sich auf den Immigration Act von 1924, der nur eine bestimmte Quote an Zuwanderern erlaubt. Für die jüdischen Menschen an Bord beginnt eine Odyssee. Als den Staatenlosen auch in Kanada die Einreise versagt wird, wendet die St. Louis und nimmt Kurs zurück nach Europa.

Gordon Thomas, Max Morgan-Witts:
Das Schiff der Verdammten.
Die Irrfahrt der St. Louis.
Edition Sven Erik Bergh, 382 S.

Trotz aller Bestechungsgelder und bezahlter Landegenehmigungen ließ man die unglückseligen Menschen nicht von Bord gehen. Der verzweifelte Kapitän Gustav Schröder, der später als einer der Gerechten der Völker in Yad Vashem geehrt wurde, wollte das Schiff vor England auf Grund setzen, um so eine Landung zu erzwingen. „In letzter Minute erreichte Schröder die Nachricht, dass Frankreich, Belgien und Holland bereit seien, die Juden aufzunehmen. Das war die letzte Lotterie ums Überleben“, erzählt Max Morgan-Witts, der die Vorkommnisse um die St. Louis für sein Buch mit seinem Co-Autor Gordon Thomas minutiös recherchiert hatte.

Im Mai/Juni 1940 besetzte die Wehrmacht Belgien, Holland und Teile Frankreichs – so geriet die Mehrzahl der Passagiere wieder in den Herrschaftsbereich des NS-Regimes. „Nur die von Großbritannien aufgenommenen Flüchtlinge waren in Sicherheit“, erzählt der Kanadier Morgan-Witts, der zur Uraufführung des Kehlmann-Stückes nach Wien gekommen ist. Neuere Forschungen haben ergeben, dass 254 der Passagiere in der Schoah ermordet wurden.

Wie stieß Morgan-Witt, Produzent von zahlreichen BBC-TV-Produktionen, auf die Story der MS St. Louis? Als Autor hatte er eine ganz besondere Nische entdeckt: Er schrieb zehn Bücher über Naturkatastrophen wie Vulkanausbrüche oder das Erdbeben in San Francisco 1906. Danach begann der heute 87-Jährige, über Schiffsunglücke zu recherchieren. „Bei allgemeinen Recherchen fand ich immer wieder Querverbindungen zum grausamen Schicksal dieser Menschen auf der St. Louis“, berichtet Morgan-Witts.

Mit Gordon Thomas widmete er sich fast zwei Jahre ausschließlich der Archivarbeit und der Zeitungslektüre aus dem Jahr 1939/40: Sie begannen, Überlebende zu suchen und zu befragen. „Wir haben Überlebende in England und den USA gefunden und sogar noch drei Deutsche von der Schiffsbesatzung interviewen können.“ 1975 erschien das Sachbuch, wurde ein Riesenerfolg und in zwanzig Sprachen übersetzt, „sogar ins Japanische!“ Von der Hollywoodverfilmung 1976 mit Faye Dunaway und Oskar Werner war der Autor nicht begeistert. Die Bühnenfassung von Daniel Kehlmann in Wien war mehr nach seinem Geschmack. Der Kurier-Kritiker dachte ebenso: „Den stärksten Moment hat diese Aufführung ganz am Schluss: Die Darsteller treten an die Rampe, und jede Figur berichtet, was aus ihr geworden ist: im KZ ermordet, im Versteck überlebt, im Krieg gefallen, mit den Nazis kooperiert … Eine jüdische Frau sagt: „Ich hatte Glück. Ich bin gestorben.“ Da wird es ganz still im Zuschauerraum. 

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