Die Stimme erheben, wenn Unrecht geschieht

Christiane Wenckheim, Miteigentümerin der Ottakringer Brauerei, setzte im Hof des Unternehmens zwei Gedenktafeln zur Erinnerung an die vertriebene jüdische Besitzerfamilie Kuffner und die Mitarbeiter vor der NS-Herrschaft.

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Christiane Wenckheim: „Die Tafeln sollen uns auch daran erinnern, dass wir eine starke Stimme haben, die wir erheben können – immer wenn Unrecht um uns herum passiert.“ © Reinhard Engel; Ottakringer Brauerei

Heute ist ein besonderer Tag. Es ist der Tag, an dem wir an das Unrecht erinnern wollen, das in der Ottakringer Brauerei 1938 und in den folgenden Kriegsjahren begangen wurde. Das Unrecht an den jüdischen Eigentümern, der Familie Kuffner“, erklärt die hochgewachsene Frau mit bestimmter, aber keinesfalls emotionsloser Stimme. Und Christiane Wenckheim, 53, Aufsichtsratsvorsitzende der Ottakringer Getränke AG, fährt fort: „Erinnern an das Unrecht an den jüdischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie an das Unrecht an vielen Menschen, die hier als Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit festgehalten wurden.“ Mit dieser klaren Aussage zur Verantwortung gegenüber der Vergangenheit enthüllte Wenckheim gemeinsam mit den Nachfahren der Familie Kuffner im Innenhof der Ottakringer Brauerei zwei Gedenktafeln sowohl zur Erinnerung an die ehemaligen jüdischen Eigentümer als auch an die Mitarbeiter sowie die Zwangsarbeiter.

Warum wurden die Gedenktafeln gerade jetzt errichtet? „Ich weiß gar nicht so recht, wo ich anfangen soll. Das ist eine lange Geschichte“, klingt es sehr nachdenklich von der Mutter einer vierzehnjährigen Tochter und eines neunjährigen Buben. „Ich war das Lieblingskind meines Großvaters, der das Unternehmen von der Familie Kuffner 1938 gekauft hatte. Er war NSDAP-Mitglied, und diese Tatsache hat mich ein Leben lang beschäftigt, weil ich ständig versucht habe zu verstehen, wie man so etwas tut. Meine Mutter hat mir laufend versichert, dass Großvater kein ‚Böser‘ war.“ Weil der Tochter das aber zu wenig war, machte sie immer wieder Familienaufstellungen, aber die Beschäftigung mit dem Thema ließ sie nicht los. „Richtig konkret und äußerst intensiv wurde es dann vor drei Jahren, als ich in Fontainebleau ein Studium in Change Management begonnen habe“, erzählt Wenckheim. „Da arbeitet man psychologisch und gruppendynamisch an der Veränderung von Organisationen. Ich hatte zwei jüdische Kollegen in meiner Arbeitsgruppe, der eine erzählte mir von seinen Großeltern, die von den Nazis ermordet wurden. Mit beiden habe ich viele ausführliche Gespräche geführt.“

Obwohl Christianes Onkel Gustav Harmer, der Bruder ihrer Mutter, die Geschichte der Brauerei in der Zeit von 1938 bis 1945 und danach in einem Buch mit dem Historiker Oliver Rathkolb korrekt aufgezeichnet hatte, fühlte sie eine persönliche Verantwortung für ihre eigene Generation und formulierte das so: „Wir können die Vergangenheit nicht verändern. Aber wir können sie anschauen, anstatt uns von ihr abzuwenden. Wir können die grausame Realität von damals wahrnehmen. Und dann innehalten. Um uns besonders eines zu vergegenwärtigen: Wir haben die Pflicht, ja die Pflicht – und in diesem Fall ist es eine schöne Pflicht –, aus dieser Vergangenheit zu lernen: für unser gemeinsames Heute.“

Bierbrauer Kuffner: eine typisch jüdische Familiengeschichte. Der Historiker Oliver Rathkolb stellte im Jahr 2000 in seinem Gutachten zum Restitutionsvergleich unter anderem fest, dass die Familie Harmer sowohl 1938 – unter den Rahmenbedingungen des NS-Regimes – als auch nach 1945 bestrebt war, die korrekte Abwicklung des Verkaufes zu ermöglichen. Denn laut Rathkolb gab es nur wenige Fälle, in denen noch vor der Erlassung der Rückstellungsgesetze in den 1950er-Jahren eine endgültige Regelung, also auch eine Nachzahlung zugunsten der Opfer der durch die Gestapo initiierten Verkäufe erzielt wurde. Auch die Österreichische Historikerkommission bescheinigte 2004, dass der Arisierungsfall Ottakringer einer jener wenigen Fälle gewesen sei, in denen die gemeinsamen Interessen der Akteure gegenüber jenen des nationalsozialistischen Staates überwogen hätten: Die jüdische Eigentümerfamilie Kuffner und die Familie Harmer hatten sich einvernehmlich über den Verkauf der Brauerei geeinigt.

»Wir haben die Pflicht, aus dieser Vergangenheit
zu lernen: für unser gemeinsames Heute«
Christiane Wenckheim

Doch dieses traurige Kapitel einer wohltätigen und kunstsinnigen Familie beendet jene erfolgreiche Geschichte, die 1850 in Wien-Ottakring begann. In diesem Jahr verkaufte der verschuldete erste Eigentümer der Ottakringer Brauerei das etwa ein Hektar große Anwesen an die aus Břeclav im südlichen Mähren stammenden Cousins Ignaz und Jacob Kuffner. Die Kuffners bauten die Brauerei zu einer der leistungsstärksten der österreichisch-ungarischen Monarchie aus. Nach dem Preußisch-Österreichischen Krieg 1866 errichtete Ignaz Kuffner in Ottakring ein Lazarett für verwundete Soldaten, und infolge des Wiener Börsenkrachs 1873 unterstützte er die Gemeinde mit zinslosen Krediten. Es folgten Armen- und Invalidenstiftungen; für seine Brauereiangestellten installierte Ignaz Kuffner eine eigene Werksküche. Derartige soziale Leistungen durch Unternehmer waren Ende des 19. Jahrhunderts nicht selbstverständlich. Als Dank für seine Wohltaten wählte die Bevölkerung von Ottakring Ignaz Kuffner zweimal zum Bürgermeister. Kaiser Franz Joseph I. erhob ihn für seine Verdienste 1878 in den Adelsstand.

Als Ignaz Edler von Kuffner 1882 starb, trat sein Sohn Moriz Kuffner das alleinige Erbe an und setzte die Erfolgsgeschichte der Brauerei fort. Außer als kundiger Brauherr machte er sich noch einen Namen als Kenner der Philosophie, Nationalökonomie sowie der französischen und englischen Literatur. Der breiteren Öffentlichkeit wurde Moriz als Alpinist und Hobbyastronom bekannt, vor allem durch die Gründung seiner eigenen Sternwarte am Gallitzinberg, der Kuffner Sternwarte. Moriz von Kuffner war ab 1900 einige Jahre lang im Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und zudem viele Jahre Präsident des Kuratoriums der Israelitisch-Theologischen Lehranstalt.

Moriz Kuffner, erfolgreicher Bierbrauer und Gründer der Kuffner Sternwarte. © geschichtewiki.wien.gv.at

Bereits 1933 begann Moriz Kuffner an einen Verkauf der Brauerei zu denken, weil er die Entwicklungen in Nazi-Deutschland mit Sorge verfolgte. Er ließ zum Beispiel die Fenster sowie das Eingangstor doppelt verstärken, um ge-gen antisemitische Übergriffe gewapp-net zu sein. Nach dem „Anschluss“ im März 1938 realisierten die Kuffners, dass sie die Brauerei möglichst rasch verkaufen sollten, bevor es durch weitere „Enteignungs- und Arisierungsgesetze“ zu einem entschädigungslosen Verlust der Brauerei kommen würde. Daher ver-kaufte Moriz von Kuffner die Brauerei an den befreundeten Stockerauer Press-
hefe- und Spiritusfabrikaten Ing. Gustav Harmer, den Großvater von Christiane Wenckheim. Die beiden Vertragspartner einigten sich auf einen Kaufpreis von 14 Millionen Schilling, was dem Schätzwert der Wiener Börsenkammer vom 8. April 1938 entsprach. Noch am selben Tag wurde der Verkauf der „Aktiengesellschaft Ignaz Kuffner & Jacob Kuffner für Brauerei, Spiritus- und Presshefefabrikation Ottakring-Döbling“ rechtzeitig vor der ab Mitte April 1938 einsetzenden Arisierungsjurisdiktion abgeschlossen. Die Familie Kuffner flüchtete nach dem Verkauf in die Schweiz, wo Moriz Kuffner kurze Zeit später verstarb.

Am 19. Mai 1938 mussten 35 Prozent des Kuffner’schen Vermögens an die Gestapo überwiesen werden. Daraus flossen zwanzig Prozent in diverse Arisierungsfonds, 15 Prozent kassierte die Gestapo direkt. Moriz Kuffners Sohn Stephan schilderte 1946 in einem Brief an Gustav Harmer den Verkauf der Brauerei: „Unsere Verhandlungen im Jahre 1938 wurden in durchwegs freundschaftlicher Weise geführt. Dieser Umstand hat es möglich gemacht, dass der Abschluss rasch zustande kam, wodurch das Eingreifen der deutschen Behörden weitgehend vermindert wurde. Das war für alle Beteiligten und für den Betrieb gewiss von größtem Vorteil.“ Bereits 1949 endeten die Rückstellungsverhandlungen zwischen der Familie Harmer und den Kuffners mit einer Entschädigungszahlung von rund 7,5 Mio. Schilling sowie 161.000 Dollar.

Blackbox der jüdischen Mitarbeiter in der Ottakringer Brauerei. „Alois Adler, geboren 1896, ermordet 1942 KZ Auschwitz-Birkenau; Franziska Bloch, geboren 1897, Emigration in die USA; Markus Haberfeld, geboren 1878, ermordet in Maly Trostinec 1942.“ Das sind nur drei jener dreißig Namen, die jetzt auf der Gedenktafel im Hof der Brauerei aufgelistet sind. „Es sind so viele Fäden auf einmal zusammengelaufen“, erzählt Christiane Wenckheim, „gerade als dieser Prozess in mir zu reifen begann, meldeten sich die Nachfahren der Familie Kuffner aus den USA, die sich die Brauerei anschauen wollten. Gleichzeitig kam eine 23-jährige Mitarbeiterin in mein Büro und erklärte mir, sie studiere tagsüber Geschichte und zapfe abends bei uns Bier.“ Anna-Lena Kiesbye wollte die Geschichte der jüdischen Mitarbeiter der Brauerei in den Jahren 1938 bis 1945 recherchieren. „Es ereignete sich plötzlich alles parallel. Vor zwei Jahren schien alles nach einer Aufarbeitung zu schreien, ich habe nur die Türe aufgemacht“, wundert sich Wenckheim noch immer.

Die Studentin erwies sich als sehr hartnäckig, denn in der Brauerei selbst war kaum Archivmaterial aus dieser Zeit zu finden. Bei einem Altbraumeister wurde man fündig, der hatte eine Liste aufbewahrt, in der alle Mitarbeiter aus dem Jahr 1933 verzeichnet waren. Mit Hilfe des IKG-Archivs und anderer Quellen, u. a. auch durch die Mithilfe von Oliver Rathkolb, der sich die Daten in der Gebietskrankenkasse anschauen konnte, war es dann möglich, die jüdischen Angestellten, die großteils in Schlüsselfunktionen wie Labor, Produktion und Finanzen tätig waren, ausfindig zu machen. „Wir haben in unserem Personalarchiv eine alte Kiste gefunden, die unbemerkt da gestanden war, da befand sich dann Material über die Zwangsarbeiter aus Italien, Polen und der Sowjetunion“, weiß die Mitbesitzerin der größten Brauerei in Wien.

In Gesprächen mit Dalia Hindler vom Verein Steine der Erinnerung und Danielle Spera von Jüdischen Museum entstand die Idee, das Gedenken mit zwei Tafeln zu manifestieren. „Der Urenkel von Moriz Kuffner hat den Text für die Familie in Deutsch und Englisch verfasst. Wir haben dann die Tafel für die Mitarbeiter und Zwangsarbeiter gestaltet“, so Wenckheim. „Diese beiden Gedenktafeln sollen uns – wenn wir davor stehen oder daran vorbeigehen, Richtung Arbeit oder Richtung zu Hause – daran erinnern, was es bedeutet, Mensch zu sein – und welche Richtung wir als Mensch nehmen wollen.“

Apropos Richtung: Die zahlreichen Schulklassen, die die Brauerei besuchen, beginnen die Führung immer vor diesen beiden Steinen und werden so mit der Geschichte des Unternehmens konfrontiert. Wenckheim: „Die Tafeln sollen uns auch daran erinnern, dass wir eine starke Stimme haben, die wir erheben können – immer wenn Unrecht um uns herum passiert. Dass es Mut erfordert, hinzuschauen und entsprechend konsequent zu handeln. Und dass diesen Mut aufzubringen unabdingbar ist.“

Wie haben die Mitarbeiter auf diese Aktivitäten reagiert? „Ganz am Anfang fragten sich einige, warum machen die das? Aber je mehr sie darüber wussten, umso mehr ist ihnen das Herz aufgegangen. Einige kamen mit berührenden Geschichten zu mir. Plötzlich wollten sie auch mehr über ihre eigenen Verwandten wissen.“ Christiane Wenckheim war es wichtig, ihre gesamte eigene Familie einzubeziehen: „Ich habe alle eingeladen, und mit jenen, die gekommen sind, konnte ich auch meinen eigenen Frieden machen.“

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