Die Stunde der Ariseure

Marta Marková entwirft in ihrem aktuellen Sachbuch Auf Knopfdruck ein Sittenbild des Diebstahls jüdischen Vermögens. Sie wirft dabei grelle Schlaglichter auf die Karriere des Textilhändlers Oskar Seidenglanz.

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Marta Marková: Auf Knopfdruck. Vienna Postwar Flair. LIT Verlag 2019, 384 S., 39,90 €

„Als stellvertretender Leiter des Arbeitsamtes Brigittenau habe ich auf Grund einer Anzeige Erhebung gegen Seidenglanz geführt. Derselbe hat im Jahre 1938 eine Judenwohnung sowie das Wäschegeschäft Osias Sass 20., Klosterneuburgerstrasse 43 arisiert. Die Hausbesorgerin und die Hausvertrauensmännin bestätigten mir dieses und ausserdem erzählt die Hausbesorgerin, dass Seidenglanz das Geschäft vollgestopft mit Ware übernahm […]. Den Besitzer des Geschäftes Herrn Sass hatte er beim Versuch sich einen Mantel zu holen einfach hinausgeschmissen. Seidenglanz besitzt […] zwei Magazine, in welchen er Möbel, zwei Autos, ein Motorrad eingestellt hat, besitzt aber keinen Kaufvertrag darüber.“

Diese Aussage vor der Wiener Staatspolizei aus dem August 1945 scheint keine Zweifel zuzulassen, wie der Kaufmann Oskar Seidenglanz seiner geschäftlichen Karriere den entscheidenden Schub gab: indem er von seinem Miniladen im 20. Bezirk eine ganze Stufe höher kletterte und das „Kaufhaus Sass“ übernahm, das einige Angestellte zählte und zu dem oberhalb des Lokals noch mehrere Wohnungen gehörten.
Seidenglanz streute aber gezielt Zweifel, und es gelang ihm, sich zweimal aus der Haft heraus zu argumentieren: Er habe das Geschäft gar nicht arisiert, sondern später von einem anderen Kaufmann erworben. Überdies habe es sich damals nicht mehr um einen laufenden Betrieb gehandelt, sondern nur mehr um ein leeres Lokal ohne Ware. Er habe es erst selbst wieder in Schuss gebracht. Dennoch sollte er dann der Familie Sass, die sich auf abenteuerliche Weise Donau-abwärts und über Mauritius nach Israel gerettet hatte, im Jahr 1954 eine nachträgliche Entschädigung von 45.000 Schilling zahlen. Sass kam nie mehr nach Österreich zurück und starb verarmt in Haifa.

»Beruhten diese Anzeigen auf Neid und Gier –
oder auf Empörung gegenüber dem Ariseur?«

Marta Marková

Seidenglanz ist nur eines der Beispiele für die skrupellosen Glücksritter, die nach dem „Anschluss“ ihren geschäftlichen Aufstieg mit der Enteignung, Erniedrigung und Vertreibung der jüdischen Besitzer verknüpften. Marta Marková hat ein großes Sittengemälde mit tief recherchierter Hintergrundinformation gezeichnet, und dennoch bleiben ihr immer wieder Lücken offen, kann sie mangels Dokumenten und Unterlagen entscheidende Fragen nicht beantworten. So grübelt sie über die Anzeigen gegen Seidenglanz nach Kriegsende: „Beruhten diese Anzeigen auf Neid und Gier – oder auf Empörung gegenüber dem Ariseur?“ Und wie konnte er als in Wien stationierter Soldat weiterhin seine Geschäfte führen, sogar ausbauen? „Woher nahm er, ein Wehrmachtssoldat, die Waren, die in all die Wohnungen gestopft waren?“

Seidenglanz kam davon, scheint nach den Recherchen Markovás sogar gegen Kriegsende noch bewusst Waren zurückgehalten zu haben, die er dann später auf dem „Hamstermarkt“ auf dem Land gegen Lebensmittel für Wiener profitabel eintauschen konnte. Seine Karriere setzte er jedenfalls nach 1945 ungebrochen fort, ließ auch wegen seines Namens offen, ob er etwa selbst Jude sei. Er expandierte mit seinen Textilläden OSEI nach Simmering, in die City und nach Ottakring, wo er in den 50er-Jahren das ehemals jüdische Warenhaus Dichter kaufte, das einst der Familie des bekannten US-Musikkritikers und Komponisten Walter Arlen gehört hatte. Seinen Erfolg krönte er schließlich mit der Übersiedelung in eine elegante Villa in Grinzing, erworben von der Industriellenfamilie Bleckmann.
Markovás Tour de Force durch das Wien der Kriegs- und Nachkriegszeit lässt einen immer wieder schaudern über die Gefühlskälte und das nüchterne Kalkül jener Ariseure, die damals ihre einzigartige ökonomische Chance erkannten.

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