Die Vergangenheit ist unsere Gegenwart

1923

Bei seinen Recherchen über den Ölrausch rund um die Stadt Drohobytsch begegnete der österreichische Dokumentarfilmer Paul Rosdy dem Musiker Alfred Schreyer. Aus der Begegnung wurde Freundschaft und eine Dokumentation über das Leben und Überleben. Ein filmisches Porträt „des letzten Juden von Drohobytsch“. Von Ditta Rudle

Einst war das heute ukrainische Drohobytsch eine wohlsituierte Villengegend, Teil des österreichischen Kronlandes Galizien. In der Nähe lagen im 19. Jahrhundert die reichsten Ölvorkommen der Welt. Von 1919 bis 1939 gehörte die Stadt zu Polen. Danach Besetzung durch die Rote Armee; 1941 wurde Drohobytsch von der deutschen Wehrmacht eingenommen. Nach Vertreibung und Zwangsarbeit begann auch das Morden. In dieser Stadt wurde 1922 Alfred Schreyer als Sohn einer Pharmazeutin und eines Chemikers (in der Erdölraffinerie) geboren. Die musischen Eltern ließen den Buben Cello lernen, und Alfred verdiente sein erstes Geld im Vokalquartett bei den Kulturbrigaden. Die Musik sollte ihn ein Leben lang begleiten, ja am Leben halten. Davon und von der Ermordung seiner Eltern, von Glück und Zufall, dem eigenen Tod entkommen zu sein, und von der unverbrüchlichen Treue und Liebe zur Heimat erzählt Alfred Schreyer, indem er den Filmemacher Paul Rosdy durch die Stadt führt, ihm die Bilder angenehmer Erinnerungen und auch die Hölle zeigt.

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Rosdy ist nicht nur aus historischem Interesse nach Drohobytsch gereist, er hat auch familiäre Bindungen an die ehemals polnisch-ukrainische Stadt, stammt doch seine Frau Ivanna von dort. Als er den heute 90-jährigen Musiker Schreyer kennen gelernt hat, in dessen Fotoalben blättern durfte und den Erzählungen zuhören, wusste er, „dass ich mit diesem Mann einen Film machen wollte, machen musste. Es ist kaum vorstellbar, was Schreyer alles mitgemacht hat, obwohl er bis auf die KZ- und Nachkriegszeit in Deutschland sein ganzes Leben in Drohobytsch, aber gleichzeitig in fünf Staaten, verbracht hat. Und er hat seinen Optimismus und seinen Humor trotz all dem Schrecklichen, das er erlebt hat, nicht verloren.“ Auch als Kinobesuchrin hört man Schreyer gerne zu, wenn er mit Leidenschaft von seiner Zeit als Mitglied eines Kinofoyer-Orchesters erzählt. Von dessen Existenz hat auch Rosdy erst durch Schreyer erfahren: „Ein sowjetisches Phänomen, eine in der Kinokultur einzigartige Erscheinung. Für Unterhaltungskonzerte vor Filmbeginn wurden vor den Kinosälen eigene Foyers gebaut, in Lemberg gab es vier, in Drohobytsch zwei, das letzte Konzert fand dort 1963 statt.“ Schreyer erzählt auch vom Werkunterricht beim berühmten Dichter aus Drohobytsch, Bruno Schulz, der 1942 auf offener Straße im Ghetto erschossen worden ist. Und Alfred Schreyer führt Rosdy auch in den Wald von Bronitza, wo 11.000 Juden aus Drohobytsch ermordet worden sind. Auch Schreyers Mutter war unter den Opfern. „Da, angesichts der Massengrabplatten, bekommt die Hölle ein Gesicht“, sagt der nachgeborene Rosdy.

Rosdy, der schon mit Dokumentationen wie Neue Welt (2005) oder Zuflucht in Shanghai (1998) sein Interesse an der unmittelbaren Vergangenheit gezeigt hat, hält es für sehr wichtig, durch den Blick „auf das, was hier geschehen ist, was ich aber nicht erlebt habe und hoffentlich auch nie erleben muss, besser zu begreifen. Ich halte es auch für sehr wichtig, sich mit der Geschichte und den Menschen der Nachbarländer zu beschäftigen, die Literatur zu lesen, Sprachen zu lernen.“ Neugierde und Aufgeschlossenheit sind Hauptantriebskräfte für Rosdys Filme. Sein Rezept für den Zugang zu den Menschen ist „einfach“: „Ich interessiere mich. Wenn Sie sich für Menschen interessieren, wirklich zuhören, dann erzählen sie gerne.“

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Paul Rosdy ist in Wien geboren und aufgewachsen

Sein Vater, geborener Ungar wie auch die Mutter, war Historiker und nach der Emigration Journalist in Österreich. „Er hat aber sehr viel unter einem Pseudonym geschrieben, denn wir hatten ja noch Verwandte in Ungarn, und das hätte bei der kritischen Haltung meines Vaters gefährlich werden können.“ Zunächst war Paul in der Tourismusbranche tätig und bereiste in den 1980er-Jahren für American Express die Welt: Sowjetunion, China, USA. Danach übersiedelte er nach Vancouver, wo er einen Filmlehrgang abgeschlossen hat. You Don’t Look for Street Signs When You’re in a Jungle ist der Titel seines Debütfilms. Auch das Drehbuch für einen Spielfilm ist bereits fertig. Doch für Emir & Merima, einer freien Weitererzählung einer mündlich überlieferten Ballade aus Bosnien und Herzegowina, hat Rosdy noch kein Geld bekommen. „So ein Spielfilm kostet gleich um ein paar Nullen mehr als eine Doku. Das ist mit Eigenmitteln nicht mehr zu leisten. Ideen allein sind in diesem Geschäft, wo der Markt überschwemmt ist, aber die Möglichkeiten des Abspielens immer geringer werden, zu wenig. Man muss nicht nur Können und Interesse haben, sondern auch die Möglichkeiten. Ich muss ja auch davon leben.“

So ist die Rosdy-Film KG quasi ein Einmannbetrieb. Buch, Regie, Ton, Schnitt und Produktion des Films Der letzte Jude von Drohobytsch lagen in Paul Rosdys schmalen Händen; Ehefrau Ivanna arbeitete als Produktionsassistentin und Übersetzerin.

Vielleicht sind es Al­­­fred Schreyers begeisterte Berichte über seine Tätigkeit im Kinofoyer-Orchester, die Paul Rosdys Interesse am Kino und den Kinos entflammt haben. „Kinos, die es nicht mehr gibt“ (in Wien) könnte die nächste spannende Dokumentation werden. Dass darin nicht nur verfallene Räume und leere Säle gezeigt werden, sondern auch Menschen zu Wort kommen, dessen kann man sicher sein. „Es ist wirklich faszinierend, kaum sage ich das Wort Kino, erzählt gleich jeder von einem ersten Kinoerlebnis. Kino hatte und hat einen eigenen Zauber.“

„Der letzte Jude von Drohobytsch“ von Paul Rosdy.

derletztejude.com

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