Dienen oder nicht?

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Anno 1948 befreite David Ben Gurion 400 orthodoxe Jeschiwa-Studenten vom Wehrdienst. Heute widmen sich 65.000 religiöse Männer dem Tora-Studium. Die Frage heißt, wie kann man die Orthodoxen im Boot behalten und dennoch an die Waffe bringen. Von Miriam Fried

Nur 70 Tage hielt die große Koalition von Israels Premier Netanjahu mit der Kadima-Partei. Zwar hat die Regierung nach wie vor eine Parlamentsmehrheit, doch es wird immer wahrscheinlicher, dass es im Winter Neuwahlen geben wird. Der Grund für das rasche Scheitern von Shaul Mofas’ Regierungsbeteiligung waren Meinungsverschiedenheiten über eine Reform der Wehrpflicht.

An sich müssen in Israel alle 18-Jährigen zum Militär, Männer dienen drei, Frauen zwei Jahre. Doch was wäre eine Regel ohne Ausnahmen, und davon gibt es mehr als genug. Deshalb dienen de facto nur die Hälfte aller israelischen Staatsbürger (Männer und Frauen, Juden, Araber und Christen) beim Heer. Religiöse Mädchen leisten zumeist Zivildienst, denn zu viel unbeaufsichtigte Nähe zu jungen Männern könnte ihrem guten Ruf schaden. Auch jene Israelis, die vor einer Militärkommission glaubwürdig als Pazifisten auftreten, sind vom Dienst mit der Waffe befreit und machen sich in Spitälern oder Altersheimen nützlich.

Israels arabische Bevölkerung ist automatisch von der Wehrpflicht befreit, denn seit der Staatsgründung gelten sie als mögliche „fünfte Kolonne“, ihre Solidarität mit dem Heimatland scheint zweifelhaft. Eine Ausnahme bilden hierbei die Drusen, die regulär eingezogen werden, und auch viele Beduinen melden sich freiwillig. Um wirklich gleichberechtigte Bürger zu sein und staatliche Vergünstigungen, wie etwa gestützte Wohnungskredite, zu erhalten, die jedem, der seine Militärzeit brav abgedient hat, zustehen, dienen jährlich aber auch mehrere hundert muslimische und christliche Araber freiwillig beim Heer.

Momentan rückt ein Viertel der jungen jüdischen Männer jedes Jahrgangs nicht ein. Abgesehen von jenen wenigen Prozent, die aus gesundheitlichen Gründen nicht dienen können, im Ausland leben oder wegen Vorstrafen vom Militär abgelehnt werden, ist es vor allem eine Bevölkerungsgruppe, die die Gemüter erhitzt: die streng Orthodoxen, denn sie dienen weder mit noch ohne Waffe.

Als im Unabhängigkeitskrieg 1948 jeder, der nur irgendwie dienen konnte, mobilisiert wurde, beschloss David Ben-Gurion auf Ansuchen der orthodoxen Aguda-Partei, für 400 Jeschiwa-Studenten eine Ausnahme zu machen. Die Schoa hatte das rege religiöse Leben Osteuropas so gut wie ausgelöscht und die ersten Neuanfänge des Talmudstudiums in der neuen jüdischen Heimat waren in den Augen vieler zur geistigen Identitätsstiftung Israels ebenso wichtig wie die Verteidigung mit der Waffe.

Netanjahu ist sich der Meinung der nichtreligiösen Mehrheit sehr wohl bewusst.

Die letzte Wehrpflichtreform 2002

In den über 60 Jahren, die seit der historischen Befreiung von der Wehrpflicht vergangen sind, wuchs sich das zarte Pflänzchen orthodoxer Gelehrsamkeit zu einem Riesenunternehmen mit über 1.500 Instituten des Torastudiums aus. Vergangenes Jahr waren es bereits rund 65.000 religiöse Männer im Alter von 18 bis 28, die dem Talmudstudium den Vorzug geben. Wer älter als 28 Jahre oder schon davor Vater von mindestens drei Kindern ist, wird automatisch vom Militärdienst befreit.

Die letzte Wehrpflichtreform wurde von Israels Parlament 2002 beschlossen, darin wurden die Kriterien für die Befreiung vom Militärdienst für streng Orthodoxe definiert. Wer etwa bereit ist, bloß ein Jahr Zivildienst zu leisten, ist jedem Soldaten, der drei volle Jahre seiner Jugend opferte, gleichgestellt. Innerhalb des Heeres wurden auch eigene Einheiten für streng Religiöse eingerichtet, in denen keine Mädchen dienen und auch genug Zeit zum Talmudstudium eingeräumt wird. Doch der Andrang der Orthodoxen hielt sich – euphemistisch ausgedrückt – in Grenzen, dem alleinigen Torastudium wird nach wie vor der Vorzug gegeben.

Diese Privilegien stießen der nichtreligiösen Mehrheit sauer auf, denn ihrer Meinung nach sind die Orthodoxen einfach Drückeberger, die zwar alle Rechte genießen, nicht aber alle Pflichten erfüllen wollen; und nach mehreren Anträgen beim Obersten Gerichtshof wurde vor Kurzem erklärt, dass dies dem Gleichheitsgrundsatz aller Bürger widerspricht.

Parlamentarische Kommission

Nun müssten theoretisch seit 1. August alle, die einberufen werden, auch tatsächlich dienen. Oder die Knesset beschließt ein neues Gesetz. Zu diesem Zweck wurde eine parlamentarische Kommission eingesetzt, deren Vorschläge darauf abzielten, das Leben für jene schwerer zu machen, die lieber Talmud studieren, als Schießübungen zu machen. Die Möglichkeiten reichten von einer persönlichen Geldbusse für das Nichtdienen bis zu eher kollektiven Strafen der religiösen Hochschulen. Denn Israels religiöse Schulen werden vom Staat subventioniert, und die Höhe dieser Unterstützungen hängt von der jeweiligen Schüler- bzw. Studentenanzahl ab. Daher haben die Jeschiwaleiter natürlich Interesse an möglichst vielen Studenten, auch wenn manche gar nicht wirklich lernen, sondern nur pro forma eingetragen sind. Die Kommission schlug daher beispielsweise vor, den Spieß umzudrehen und jenen orthodoxen Hochschulen, die für sehr viele Studenten um eine Befreiung vom Militärdienst ansuchen, das Budget zu kürzen.

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Ein unmöglicher Spagat
Premier­minister Netanjahu war von derlei Ideen nicht sehr angetan, denn damit vergrault man die streng religiösen Parteien, und die sind zum koalieren doch sehr nützlich. Schließlich interessieren sie sich nur für ihre eigenen Angelegenheiten, sprich möglichst viel Geld für ihre Leute aus dem großen Budgettopf abzuschöpfen. Bei außenpolitischen Entscheidungen, in Wirtschaftsfragen oder beim Friedensprozess stimmen sie immer brav mit dem großen Koalitionspartner. Wo sonst finden sich so ideale Partner zum Regieren.

Andererseits ist sich Netanjahu sehr wohl der Meinung der nichteligiösen Mehrheit bewusst, Umfragewerte und seine persönliche Popularität sind ihm sehr wichtig. Vorläufig scheint es fast unmöglich, einen geglückten Spagat zwischen den typischen Likud-Wählern, die sich am lautesten über die frommen Drückeberger beklagen, und seinen liebsten Koalitionspartnern zu machen.

Es scheint zurzeit unwahrscheinlich, dass die orthodoxe Öffentlichkeit und vor allem ihre tonangebenden Rabbiner ihre Einstellung ändern werden. Zu groß ist die Angst vor einer Öffnung gegenüber der nichtreligiösen Welt. Junge fromme Männer sollten ihrer Auffassung nach möglichst lange nur unter ihresgleichen verkehren, ohne den Versuchungen der sekulären Umgebung ausgesetzt zu werden. Wer Kinofilme sieht, weltliche Zeitungen liest und nicht religiöse Mädchen kennen lernt, könnte daran Gefallen finden. Bei den Orthodoxen zählt das Kollektiv, nicht der Einzelne. Die individuelle Verwirklichung und hedonistische Lebensweise, die heute die westliche Gesellschaft prägen werden daher als unmittelbare Bedrohung empfunden.

WINA Kommentar

Dienst mit irdischen Waffen

Eine unorthodoxe Antwort aus der Orthodoxie auf die Frage, ob und wie weit streng Religiöse in Israel Dienst an der Waffe leisten soll. Das Gespräch führte Giora Zurel

In Israel existiert – leider – ein dreigeteiltes Bildungssystem mit einer staatlichen profanen, einer staatlichen nationalreligiösen und einer weitgehend unabhängigen, aber staatlich finanziell unterstützten ultraorthodoxen Richtung.

Dadurch wird es möglich, dass in Israel ein Kind mit nicht-religiösem Hintergrund in seiner gesamten Schullaufbahn weniger über religiöse Inhalte und Traditionen erfährt als eines, das in Wien den Religionsunterricht oder eine jüdische Schule besucht.

Dieser israelische Schüler, der kaum mit religiösen Inhalten in Berührung kommt, leistet dann nach der Matura seinen Wehrdienst ab und schiebt etwa Wache vor der Machpela (die Grabstätte Abrahams) in Hebron oder sichert den Zugang zum Josefs-Grab in Schem (Nablus), um orthodoxen Gläubigen den Besuch dieser heiligen Stätten zu ermöglichen. Was soll er sich dabei denken?

Er hat keine Beziehung zur religösen Bedeutung dieser Stätte und wird diese kaum während seines Dienstes aufbauen können. Er fühlt sich vielleicht sogar „missbraucht“, was seine negative Haltung der Orthodoxie gegenüber lediglich verstärkt.

Ist diese Situation gerecht?, fragt man sich. „Nein, das ist nicht gerecht, und es verstärkt den Unfrieden zwischen Religiösen und Weltlichen“, kommt die prompte Antwort eines Vertreters aus der Wiener Orthodoxie.

Aber die Orthodoxen haben doch aus ihrer Sicht gute Gründe, gegen den Wehrdienst zu sein. Gemeinsamer Dienst mit Frauen, musikalische Feiern, Bekleidung aus gemischten Geweben … Wie soll das gehen?

Wenn man will, geht es. Es müssten eigene Einheiten gebildet werden – natürlich ohne Soldatinnen. Für diese Einheiten würden die strengen religiösen Vorschriften gelten. Es gibt weltweit Beispiele dafür.

Und diese Einheiten sollen dann in Hebron oder Sch’chem (Nablus) Dienst machen?

Aber nein. Sie können und sollen überall eingesetzt werden. Die Tatsache, dass es sie gibt, würde nur dafür sorgen, dass sich die Weltlichen gerechter behandelt fühlen. Das wäre ein Beitrag für den „Hausfrieden“ im Lande Israel.

Und das soll für alle Orthodoxen gelten?

Nicht ganz. In vielen Ländern sind Geistliche und Studenten geistlicher Berufe vom Wehrdienst befreit. Warum soll das für Israel nicht gelten? Rabbiner und solche, die diesen oder einen ähnlichen Beruf anstreben, sollen vom Wehrdienst befreit sein. Aber die vielen anderen, die weltlichen Berufen nachgehen oder eine entsprechende Ausbildung absolvieren, sollen wie alle anderen auch ihren Beitrag für das Land leisten.

Aber besteht da nicht die Gefahr, dass es auf einmal viel mehr Rabbinatsschüler geben wird? Schließlich sind die rein egoistischen Motive, sich den Wehrdienst zu ersparen, nicht zu unterschätzen. Er kostet Zeit, ist anstrengend und auch gefährlich.

Ja, Drückeberger gibt es überall und in allen Armeen der Welt. Das ist ein Faktum, mit dem man leben muss. Wenn aber ein Teil der Orthodoxen ihren Dienst macht, wird es für die anderen gesellschaftlich schwieriger, sich herauszuschwindeln. Ein solcher Dienst an der jüdischen Allgemeinheit, ob als Zivil- oder Militärdienst, würde auch die Möglichkeit bieten, eine fehlende weltliche Bildung im ultraorthodoxen Bildungssystem zu ersetzen. Dadurch wäre eine ökonomische Absicherung der Orthodoxie möglich, da junge Männer sich in den Arbeitsprozess eingliedern könnten. Und damit wäre wiederum eine teilweise Entlastung des israelischen Staates möglich, der derzeit große Teile der ultraorthodoxen Gesellschaft über Subventionen finanziert. So könnten beide Teile der israelischen Gesellschaft befriedet werden und der notwendige Zusammenhalt angesichts der Konflikte um Israel wäre möglich.

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