Ein versunkener Stern unweit von Wien

„Stern von Israel“ wurde es in seiner Blütezeit genannt, doch „heute leben da keine Juden mehr“, weiß Katerina, unsere Führerin durch Mikulov, den kleinen mährischen Städtchen hart an der öster­­­reichischen Grenze, das früher einmal Nikolsburg hieß.

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Anfang des 18. Jahrhunderts ein prächtiger Bau mit einem zentralen viersäulig aufragenden Baldachin im Innenraum für den „Almenor“, das Vorleserpult. INFO: Tourismuszentrum Mikulov 00420/519 510 855 info@infomikulov.cz © Konrad Holzer

Zwischen Gräberreihen schleppt sich eine Gruppe schwarzgekleideter Chassidim samt Ehefrauen suchend bergan. „Where is it?“, fragen sie uns, die wir bergab kommen. „It“, das ist der Rabbinerhügel, auf dem die Gräber längst verstorbener Gelehrter liegen, die weit über die Grenzen Mährens hinaus berühmt waren. Wie einst von überall her Schüler in ihre Jeschiwa, so pilgern heute Chassidim sogar von Amerika an deren letzte Ruhestätten, legen dort Steine und kleine Wunschzettel ab und beten. Etwa am Grabmal des Wunderrabbis Mordechai Benet, der 1829 während einer Kur in Karlsbad verstarb, dessen sterbliche Überreste jedoch von seinen Anhängern Monate später nach Nikolsburg gebracht und in der Nähe anderer „Zaddikim“ bestattet wurden.

Rabbinerhügel. An den Gräbern längst verstorbener Gelehrter legen Pilger Steine und Wunschzettel ab. © Konrad Holzer

So lebt Mikulov heute zum Teil von seinen Toten und ist sich dieses Erbes wohl bewusst. Ein Verein der Freunde jüdischer Kultur pflegt den malerisch gelegenen jüdischen Waldfriedhof, auf dem noch 4.000 Grabsteine in der Originalposition erhalten sind. Mehr über dessen Geschichte erfährt man in der vom Wiener Architekten Max Fleischer erbauten Zeremonienhalle.
Neben dem Friedhofsrundgang gehört auch ein Besuch der so genannten Oberen Synagoge oder „Altschul“ zu jeder touristischen Stadtführung. Nachdem ihr Vorläufer aus dem 16. Jahrhundert einem Brand zum Opfer gefallen war, entstand Anfang des 18. Jahrhunderts ein prächtiger Bau mit einem zentralen viersäulig aufragenden Baldachin im Innenraum für den „Almenor“, das Vorleserpult, vor dem ursprünglich barocken Thoraschrein. Nach 1938 teilweise zerstört und als Lagerhaus genutzt, wurde die größte und einzige erhaltene Synagoge erst 2014 nach alten Plänen restauriert. „Teilweise haben das Juden bezahlt, und es gab Subventionen von der EU“, weiß Katerina. Obwohl nur noch ein Museum, treffen hier doch alljährlich Chassidim aus aller Welt zum Beten zusammen.

Am ehemaligen Sitz der Kultusgemeinde kann im Jewish Style gespeist werden.

„Schutzjuden“. Die lang gestreckte „Judengasse“ heute Husova, spiegelt die wechselvolle Geschichte der jüdischen Gemeinde. Sie liegt am Abhang des Schlossbergs, auf dem die weithin sichtbare Burg das Stadtbild prägt. Hier residierten die Liechtensteiner und Dietrichsteiner, die Schutzherren der Juden, die sie nach deren Vertreibung aus dem Habsburger-Wien im 16. Jahrhundert aufgenommen hatten. Ihren „Schutzjuden“ gewährten sie klugerweise das Recht der Selbstverwaltung und profitierten von deren reichlichen Steuern, denn am Handelsweg von Wien nach Brünn blühte das Geschäft mit Wolle, Wein und Vieh, jüdische Gänsezüchter exportierten Federn und Gänseleber. Im prosperierenden jüdischen Viertel entstanden bald ein Rathaus, Rabbinat und Mikwe, jüdische Schulen, Bäckereien, Fleischereien, Waisen-, Kranken- und Armenhaus. Mindestens ein Dutzend Bethäuser soll es gegeben haben, und der Ruf charismatischer Rabbinerpersönlichkeiten zog Gelehrte und Schüler an. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten die etwa 3.500 Juden fast die Hälfte der Stadtbevölkerung und damit die größte, politisch und kulturell auch bedeutendste jüdische Gemeinde Mährens.

© Konrad Holzer

Paradoxerweise begann gerade nach der vollen Gleichberechtigung der Juden 1848 und der Öffnung des Ghettos die Abwanderung und damit der Abstieg der Gemeinde. Denn da die neue Bahnlinie von Wien nach Brünn Nikolsburg nicht mehr berührte, verödete der Handel, und die meisten Juden mussten ihren Lebensunterhalt anderswo suchen. Das Judenviertel verfiel zum Armenviertel, bis schließlich die Gemeinde mit der Unabhängigkeit der CSSR auf wenige Hundert zusammengeschmolzen war. Die letzten 30 Juden aus Mikulov wurden nach Theresienstadt deportiert.
Nur noch 90 Objekte des jüdischen Viertels mit ihren typischen architektonischen Details wie den Eckarkaden sind heute zum Teil als Kulturdenkmäler erhalten und restauriert, ein gut ausgeschilderter Pfad weist den Weg und auf dessen Highlights hin. Die ehemalige Mikwe wurde entdeckt und zugänglich gemacht, und im Restaurant des „Hotel Tanzberg“, dem ehemaligen Sitz der Kultusgemeinde, kann im Jewish Style gespeist werden. Unter dem Motto „What used to be eaten in this house“ verzeichnet die Speisekarte Klassiker wie Gehackte Leber, Goldene Joich und Sabbath-Tscholent – auch werktags.
Kaum verborgen und nur 70 Kilometer von Wien entfernt ist in Mikulov ein Stück jüdischer Vergangenheit ohne großen Aufwand und durchaus lohnend zu entdecken.

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