Ein Wunder

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Lichter im Dunkel. Es sind all die kleinen und großen Wunder, an die wir uns zu Channuka erinnern sollen – mit jeder Kerze, die wir anzünden. © flash90

Editorial, WINA #12, Dezember 2017/Jannuar 2018

Der wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen verurteilte frühere SS-Mann Oskar Gröning ist nach Auffassung des Oberlandesgerichts Celle haftfähig. Der 96-Jährige wurde 2015 zu vier Jahren Haft verurteilt, seine Beschwerde gegen das Urteil wurde nun vom Gericht zurückgewiesen. Ein Wunder.
Der einzige mit dem Siegel des Hohenpriesters verschlossene Ölkrug, den die Hasmonäer bei der Rückeroberung des Tempels vorfanden, hätte genau einen Tag lang brennen sollen. Doch die Flamme erlosch noch weitere sieben Tage nicht. Ein Wunder, an das wir uns jedes Jahr, wenn die Tage kürzer und die Nächte länger werden, erinnern. Wir erinnern uns dabei an die Tapferkeit der Makkabäer, die eine übermächtige Armee besiegten und damit die Identität und den Fortbestand des jüdischen Volkes sicherten. Wir erinnern uns an Wunder, die nicht mit Gesetzen der Physik und Logik erklärbar sind. Viel mehr mit Willen und Glauben. Mächtige Waffen im Kampf gegen den Hass und für das Überleben.
Éva Fahidi hatte diesen Willen. Sie hat überlebt. Und sie hat 50 Jahre nicht darüber gesprochen, was geschah. Nicht darüber, dass ihre gesamte Familie ermordet wurde, nicht darüber, was sie überlebt hat. Sie hat geschwiegen und sehr lange gehasst. Und dann geschah das Wunder. Sie wurde mit vielen anderen Überlebenden 1989 nach Deutschland eingeladen. Sie zögerte und fuhr dann doch. Und sie traf dort Menschen, Deutsche, die ihre Geschichte hören wollten, betroffen waren und sich entschuldigt haben – ohne schuldig zu sein. Sie begann, ihre Geschichte aufzuschreiben, und hörte auf zu hassen. „Wir wissen, wie der Hass die menschliche Seele zerstört. Wir wollen nicht mehr hassen, wir lassen uns nicht demoralisieren, wir stehen weit darüber. Das ist unser trauriger Trost“, sagte sie bei einer Gedenkveranstaltung. Sie hasst nicht mehr, aber sie kann nicht verzeihen. „Wir ehemaligen Häftlinge aus Auschwitz-Birkenau sprechen über unser Leben und über das Leben unserer Toten, wenn wir über Verzeihung sprechen.“ Fahidi hat im Gröning-Prozess ausgesagt. Sie war Nebenklägerin, er wurde verurteilt. 70 Jahre nach Kriegsende.

„Es gibt nur zwei Arten zu leben. Entweder so, als wäre nichts ein Wunder,
oder so, als wäre alles ein Wunder.“
Albert Einstein

Éva Fahidi war 18 Jahre alt, als sie in Auschwitz ankam. Nun ist sie 92 Jahre alt. Seit einiger Zeit erzählt und schreibt sie nicht nur, sie tanzt auch ihr Leben. Sie ist ein Wunder. Dass sie lebt, ist ein Wunder, dass sie tanzt, ist ein Wunder, dass sie so einfühlsam, zart und berührend Zeugnis ablegt, ist ein Wunder.
In diesem Heft gedenken wir zum 80. Mal des Anfangs vom Ende, des „Anschlusses“, 1938. Wir gedenken dieses Jahres mit beeindruckenden Persönlichkeiten, berührenden Geschichten und ernüchternden Analysen. Warum so früh schon? Nun, 2018 wird ein wichtiges Jahr des Erinnerns, denn es gab viele Achter, deren wir auch aus jüdischer Sicht gedenken müssen: 1848, 1918, 1938, 1948, 1968. Wir werden in den kommenden Monaten all dieser Zäsuren Schwerpunkte widmen und freuen uns, wenn Sie uns dabei begleiten.
Bis dahin verabschieden wir uns mit dieser Doppelausgabe vom Jahr 2017, danken für Ihre lesende Begleitung und wünschen Ihnen ein frohes Chanukka und eine Zeit mit viel Licht und voller kleiner und großer Wunder.

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