Eine Reise mit der Zeitmaschine

Autokratien sind rückwertsgewandte Zeitreisen durch kollektive Traumata.

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Jedes Trauma eröffnet einen eigenen Zeitrahmen. Ungelöste Traumata bilden die Grundlage für die kollektive Angst, die sowohl das Leben als auch das Denken von Generationen prägt, und reißt uns damit stets aus dem aktuellen Geschehen. Wir sehen immer wieder, dass ungelöste traumatische Situationen sich wiederholen und in der Gegenwart neu erschaffen. Unser Urteil über das Trauma ist in Bezug auf seine Fortpflanzung leider unerheblich, solange die Gesellschaft, in der wir leben, entlang der Bruchlinien dieses Traumas gespalten ist. Die Vergangenheit überschreibt damit die Gegenwart oder färbt sie kräftig um.

 Autokratie führt uns zurück in unsere mit Trauma-Serien belastete Geschichte.

Die Gesamtheit unserer unverarbeiteten kollektiven Traumata führen zu einem beschädigten Sinnsystem, das die Strukturen und Institutionen unserer Gesellschaft definiert. Sie bildet das tragende Gerüst im Unterbewusstsein unserer Gemeinschaft, beeinflusst unsere zwischenmenschlichen Beziehungen und infiltriert unsere Weltanschauung. Das ungelöste kollektive Trauma schafft und zerstört damit gleichzeitig Identität. Es behauptet nur die eigene Realität, die nicht oder nur sehr schwer erfassbar ist und ihr damit kaum eine Bedeutung zugewiesen werden kann. Seine nackte Realität ist meist eine Grausame, in der wir gleichzeitig Opfer und Täter sind. Unsere Aufgabe liegt deshalb darin, eine kollektive Wahrheit zu finden, die wir als unsere gemeinsame akzeptieren können. Wenn es einer traumatisierten Gesellschaft nicht gelingt, diese posttraumatische Entwicklung zu vollziehen, dann wird sie eine Identität aufbauen, die auch die destruktiven Effekte des Traumas beinhaltet – somit pflanzt sich die traumatisierte Identität fort. Die Gemeinschaft wird damit um ihre Identität beraubt und damit erneut traumatisiert.

Jede Autokratie operiert mit der Überlieferung verborgener Traumata an die nächsten Generationen. Dies ist das Werkzeug zur Ausübung und Erhaltung ihrer Macht. Eine Autokratie wird aus der Vergangenheit inspiriert und enteignet die Erinnerung. Sie nährt die bereits erlittenen Traumata und wird selbst zu einer traumatisierenden Kraft. Die Gemeinschaft trägt, wie eine Handpuppe, die unerträgliche und unaussprechliche innere Wahrheit des Traumas, während das autokratische System eine auf Traumata aufgebaute, verfälschte Mythologie am Leben erhält, die sie von Zeit zu Zeit, wie von der Zauberhand erweckt, wieder erlebbar macht. Zeitreisen werden eine ständige Erfahrung, weil eine Autokratie eigentlich eine Zeitmaschine ist. Sie rattert mit uns zurück in unsere traumatische Geschichte. Die schlummernde Erfahrung des Traumas wird damit nicht zu einer Erinnerung aus der Vergangenheit, sondern zum immer gültigen Mythos – zu einer absoluten Vergangenheit, von der der gegenwärtige Moment immer in der gleichen Entfernung bleibt. Egal, wie weit wir uns auf der Zeitachse von diesem bestimmenden Trauma entfernen, wir können es nie wirklich hinter uns lassen.* 


* Dieser Text ist Teil des TRAUMAMEMORIALs, einer Videoinstallation am Heldenplatz in Budapest im April 2018. Das Künstlerkollektiv Shakespeare’s Helmet versucht dabei, mit den Mitteln zeitgenössischer Kunst das Funktionieren autokratischer Systeme aufzuzeigen. Das Traumadenkmal soll nach Budapest in weiteren europäischen Großstädten gezeigt werden.

Video: vimeo.com/shakespeareshelmet

*Der Text basiert auf einen Text aus Judit Nóra Pintérs The Neverending Present – Trauma and Nostalgia; L’Harmattan, 2014.

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