„… erzähle ihnen nie, wie ich geendet habe“

Der österreichische Widerstand gegen das NS- Regime bestand aus mutigen Frauen und Männern. Mit den noch immer präsenten Traumata der Nachfahren in zweiter und dritter Generation befasst sich der Psychotherapeut Manfred Pawlik.

1990
Manfred Pawlik: Die Nachgeborenen. Eine Anatomie der menschlichen Kreativität. Berger & Söhne, Ferdinand 2017, 384 S., € 30

Meine Eltern haben daheim nie etwas erzählt, weil sie sich als Verbrecher gefühlt haben“, sagt Rudolf Goldsteiner, der erst als Erwachsener erfahren hat, dass die Eltern und seine Großmutter eigentlich Helden waren. Dem Enkel, der als Elektroingenieur bei Siemens tätig ist, erzählt sein Betriebsrat im Jahr 1991 beiläufig, dass er bei einem Besuch im Archiv des österreichischen Widerstandes den Namen Goldsteiner gelesen habe. „Jetzt wollte ich wissen, was drei Jahre vor meiner Geburt im niederösterreichischen Pulkau geschehen war, und ich begann nachzuforschen. Seither lässt mich das Thema NS-Zeit und Familiengeschichte nicht mehr los.“ So erfuhr der Enkel vom Schicksal seiner Großmutter Anna, die am 5. Juli 1944 im Wiener Landesgericht enthauptet wurde.

Der Umstand, dass weder Anna Goldsteiner vergessen noch ihr Enkel Rudolf Goldsteiner bei der Aufarbeitung seiner Ahnengeschichte allein gelassen wurde, ist Manfred Pawlik zu verdanken: Der Psychotherapeut und Sozialwissenschaftler hat in zwei akribisch recherchierten Werken die antifaschistischen Aktivitäten aufrechter Österreicher publiziert: Seinen Widerstandsatlas mit dem Titel Widerstand im Weinviertel widmet er 2013 den „stillen Helden“ des Krieges; sein 2017 erschienenes Buch Die Nachgeborenen gibt einen Überblick seiner Familiengeschichte und seiner eigenen Sozialisierung, porträtiert aber vor allem Nachkommen von Widerstandskämpfern, zu denen er auch die Deserteure zählt. „Das offene Zuwiderhandeln gegen ein herrschendes diktatorisches System ist ein Widerstandshandeln“, konstatiert Pawlik.

Der Titel seines Buches Die Nachgeborenen bezieht sich auf das Gedicht von Bertolt Brecht, der darin das Verständnis für die Verzweiflung seiner Generation im Kampf gegen Faschismus, Diktatur und Barbarei anspricht. Als Pädagogen und Familientherapeuten beschäftigen Pawlik insbesondere die Auswirkungen der furchtbaren Erlebnisse der Elterngeneration auf die Nachfahren von Widerstandskämpferinnen und -kämpfern sowie NS-Opfern. Diese sind oftmals durch schwere Traumatisierungen geprägt, die sich in Verschweigen, Verdrängen, Trauer und schweren Depressionen äußern. „Nach einer Aufarbeitung verwandelt sich diese psychische Belastung aber oft in Stolz und in die Bereitschaft zu sozialem Engagement sowie die Verantwortung, die Botschaft ihrer mutigen und aufrechten Vorfahren weiterzutragen“,weiß der Familientherapeut aus seiner Praxiserfahrung.

So erging es auch dem Enkel von Anna Goldsteiner: Vom 10. März 1991 bis 18. Dezember 2016 führte Rudolf ein Tage-bzw. Notizbuch, in dem er seine persönlichen Aktivitäten in Bezug auf seine Großmutter auflistet. Die erste Eintragung lautet: „Beschäftigung mit Band 3 Widerstand und Verfolgung in Niederösterreich.“ Und die vorläufig letzte: „Heute fuhren wir zum Zentralfriedhof, zur Gedenkstätte an die von den Nazischergen Hingemetzelten. Zum Gedenkstein für meine Großmutter Anna Goldsteiner.“

Doch wer war diese Frau, deren Schicksal bis heute sogar die Urenkelin beeinflusst? Die Wienerin Anna heiratete nach Pulkau (Bezirk Hollabrunn) und gebar vier Söhne. Im Sommer 1943 besuchte sie ihren Ehemann im deutschen Eckernförde, wo er in einer Torpedofabrik arbeitete. Dort wurde der Frau klar, dass der „Endsieg“ nicht kommen werde. Diese Information gab sie zu Hause in Pulkau an ihre Söhne und deren Freunde weiter. Diese gründeten daraufhin die Widerstandsbewegung „Ewig treu mein Österreich“. Die vier Burschen und andere Jugendliche schmiedeten Pläne, wie sie das Regime stürzen könnten. Sie zertrümmerten die offiziellen Anschlagkästen und prügelten sich mit den Angehörigen der Hitlerjugend.

Am 5. Juli 1944 wurde Anna Goldsteiner im Wiener Landesgericht mittels Fallbeil „weggeräumt“ – als eine von rund 2.700 österreichischen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern.

„Diesem Treiben und Planen der Jugendlichen hat die Angeklagte Anna Goldsteiner nicht, wie es ihre Pflicht als Mutter eines der Angeklagten und erwachsene Person gewesen wäre, Einhalt geboten“, heißt es in der Anklageschrift von 1944, die Pawlik zitiert. „Durch ihre hetzerischen Reden“ habe sie die Umsturzpläne der Jugendlichen überhaupt erst zum Reifen gebracht und diese „in der Folge durch Rat und Tat gefördert“. Außerdem hätte sie sich „des Verbrechens der Wehrkraftzersetzung schuldig gemacht“, ist weiter in der Anklageschrift zu lesen. Alle Versuche der Familie, eine Begnadigung zu erwirken, blieben fruchtlos. Enkel Rudolf vermutet, dass Interventionen aus Pulkau dafür verantwortlich waren: „Man wollte vermutlich ein Exempel statuieren in Hinblick auf all jene, die am ,Endsieg‘ zu zweifeln begonnen hatten. Und mit der Hinrichtung dieser Hausfrau und vierfachen Mutter sollten alle Gegenströmungen eingedämmt werden.“

Diese Vermutung Rudolfs deckt sich mit den Aussagen seines Onkels, des ebenfalls Verurteilten Ernst Goldsteiner, vom August 1945: „Meine Mutter hat vom Zuchthaus aus an die damalige Frauenschaftsführerin Hilde Dechant geschrieben und sie gebeten, etwas zu unternehmen, damit das Todesurteil aufgehoben werde. Wie mir nach meiner Befreiung die in Pulkau wohnhafte W. erzählte, hat sich diese bei Hilde Dechant erkundigt, ob man für die Frau Goldsteiner nichts tun könne, worauf die Dechant erwiderte: ,Nein, so einer Frau kann man nicht helfen, so eine Frau muss weggeräumt werden.‘ “

Am 5. Juli 1944 wurde Anna Goldsteiner im Wiener Landesgericht mittels Fallbeil „weggeräumt“ – als eine von rund 2.700 österreichischen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern, die gegen das Naziregime opponiert haben. Mehrere Hundert von ihnen sind auf dem Wiener Zentralfriedhof beerdigt worden: Dort, in der „Gruppe 40″, erinnert ein Grabstein an Anna Goldsteiner – und auch in jenem Raum im Wiener Landesgericht, in dem einst die Guillotine stand, scheint ihr Name auf einer Gedenktafel auf. Nur in der Gemeinde Pulkau selbst hat es 70 Jahre gedauert, ehe man sich dem Druck des Enkels beugte und sich an eine starke Frau erinnerte, die mit Mut und Zivilcourage der Nazi-Obrigkeit die Stirn bot.

„Welcher Geist die Verantwortlichen bei der Entscheidung für den Aufstellungsort der Tafel beseelt hat, ist allerdings nicht ersichtlich, ein besonders sensibler kann es aber nicht gewesen sein“, schreibt Kris B. Flašar, Betreiber der Website camera humana, „denn die Tafel für die Widerstandskämpferin landete ausgerechnet am Kriegerdenkmal – just unter den Namen derjenigen, die mitgeholfen hatten, das Hitlerregime möglichst lange am Leben zu erhalten.“ Die Tafel an der unteren Stufe des Kriegerdenkmals von Pulkau wird irgendwann einmal von Blumen verdeckt sein. Einfach Gras darüber wachsen zu lassen, war schließlich schon immer die beliebteste Taktik bei der „Bewältigung“ der Vergangenheit.

Erzähle nicht den Kindern … „Ich bitte Dich, liebste Grete, erziehe alle drei Kinder gut, sei ihnen eine brave Mutter, erzähle ihnen nie, wie ich geendet habe. Ich werde Euch alle im Himmel beschützen.“ Diese Zeilen schrieb der 29-jährige Wiener Franz Dubravka wenige Stunden vor seiner Enthauptung als Wehrmachtsdeserteur am 13. März 1944 im Wiener Landesgericht. Die Formulierung „erzähle ihnen (den Kindern) nie, wie ich geendet habe“ findet man zweimal im Abschiedsbrief jenes Mannes, der bereits seit 1939 im Kriegseinsatz in Polen, Frankreich und in Afrika und zuletzt in Serbien gewesen war. Der Gedanke an Desertion hat Franz Dubravka und vier seiner Freunde schon länger beschäftigt, und die Durchführung erinnert an ein Räuberstück, das auch der Gestapo auf Dauer nicht entgehen konnte: Laut Anklageschrift hat die Freundesgruppe einzig durch gefälschte Ausweise und mit Einbrüchen ihr Überleben ermöglicht. Am 5. Dezember 1943 wurden die Freunde verhaftet und im Schnellverfahren zum Tode verurteilt.

„Meine Mutter hat der Bitte des Vater entsprochen und uns viele Jahrzehnte seine Todesart verschwiegen“, erzählt Ernst Dub­ravka, der erst als Erwachsener von der Hinrichtung erfahren hatte. Seine Cousine, die SPÖ-Nationalrätin Ruth Becher, und ihr Mann Hans halfen ihm bei der Recherche in den Archiven des Landesgerichts und brachten Ernst Dubravka auch mit Manfred Pawlik zusammen. „Für die Nachfahren des österreichischen Widerstandes war es trotz der beeindruckenden Lebensschicksale ihrer Vorfahren schwierig, damit umzugehen“, weiß der Therapeut. „Auch wenn die Menschen im Widerstand dazu beigetragen haben, dass die NS-Diktatur besiegt wurde, war der Sieg doch nur durch die militärische Allianz möglich. Verstärkt wurden die Traumata durch die Nichtanerkennung der Leistungen des Widerstands durch die maßgeblichen politischen Machtträger sowie die anstandslose Integration nationalsozialistisch belasteter Personen bis hin zur Amnestierung krimineller Täter. Die Bagatellisierung der NS-Verbrechen durch Schweigen und Nichtaufarbeitung sowie die Kriminalisierung des Widerstandes, wie etwa der Deserteure, kamen hier noch dazu.“

Mehr als zwanzig Porträts von Nachgeborenen vereint Manfred Pawlik in seinem berührenden und verstörenden Buch. Auch seinem Jugendfreund, dem Lyriker und Autor Robert Schindel, sowie dessen Mutter Gerti, die im kommunistischen Widerstand tätig war und sowohl Auschwitz als auch Ravensbrück überlebt hatte, widmet Pawlik ein ausführliches Kapitel.

 

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