Es geht um Haltung

In der Familie Schwarz wird Hilfe für andere seit Jahrzehnten groß geschrieben. Peter Schwarz ist seit 22 Jahren Teil des Leitungsteams von ESRA – eine Tätigkeit, die ihm bis heute Freude macht.

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Peter Schwarz: Gutes zu tun trägt aktiv dazu bei, die Sicherheit der Gesellschaft zu verbessern. © Daniel Shaked

Auf einem Sideboard in Peter Schwarz’ Büro steht ein Modell des ehemaligen Leopoldstädter Tempels in der Wiener Tempelgasse. Und dieses Objekt passt so gut zu ihm, der sich einerseits gerne in den Hintergrund und die Sache in den Mittelpunkt stellt, dessen Handeln aber nicht nur durch die Gegenwart bestimmt, sondern auch durch die Familiengeschichte, also die Vergangenheit inspiriert wird. In wenigen Wochen soll das Modell im Eingangsbereich von ESRA, dem psycho­sozialen Zentrum der Kultusgemeinde, seinen endgültigen Platz in einer Vitrine finden. Nun steht es aber schon eine ganze Weile in Schwarz’ Büro. Und es passt gut dorthin.

ESRA ist heute dort beheimatet, wo einst die größte Synagoge Wiens stand. An die 3.000 Menschen fanden hier Platz. Es ist ein Ort mit trauriger Geschichte – und gleichzeitig ist es stimmig, dass genau hier nun Jüdinnen und Juden psychosozial betreut werden, wo einst eine große jüdische Gemeinde auch die Geschichte Wiens prägte. Und es gibt auch eine mit der heutigen Adresse ESRAs verknüpfte Kontinuität: Im Nebengebäude des vor seiner Zerstörung so großen Tempels wurden bis 1942 in einem jüdischen Ambulatorium Kinder medizinisch versorgt.

Peter Schwarz leitet heute als Geschäftsführer gemeinsam mit Gerda Netopil (Leiterin soziale Arbeit) und Klaus Mihacek (Primar Ambulanz) ESRA und ist dabei vor allem für die wirtschaftlichen Belange zuständig. Eine Herausforderung in Zeiten knapper Budgets der öffentlichen Hand. Dennoch betont Schwarz, wie sehr sich die Stadt Wien, der Natio­nalfonds der Republik Österreich und einige andere öffentliche Stellen seit jeher bemühen, die wichtige Arbeit des psychosozialen Zentrums zu unterstützen. Die Bereiche, die von der öffentlichen Hand nicht ausreichend finanziert werden können, werden durch Spenden abgedeckt. Er wacht also über das Budget, mit dem Ziel, möglichst viele Hilfesuchende kompetent zu betreuen. „Es ist nicht meine Aufgabe, etwas zu verhindern. Ich sehe es als meine Aufgabe zu ermöglichen, dem Bedarf, den meine KollegInnen in ihrer Arbeit mit KlientInnen und PatientInnen wahrnehmen, gerecht zu werden. Also die Entwicklung von ESRA und die Unterstützung der Hilfesuchenden zu ermöglichen.“

Seit seiner Gründung 1994 steht ESRA nicht still, sondern passt sein Betreuungs- und Behandlungskonzept stets an und entwickelt sich laufend weiter. Von Anfang an standen zwei Gruppen im Mittelpunkt der Versorgung: traumatisierte NS-Überlebende – dabei ganz bewusst nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern auch andere NS-Überlebende und deren Nachkommen, sowie zugewanderte Jüdinnen und Juden, die es galt, bei ihrer Integration in die jüdische Gemeinde und in die allgemeine Gesellschaft zu unterstützen.

Peter Schwarz stellt stets die Teamleistung in den Vordergrund. Fast 100 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zählt ESRA heute, 70 davon sind angestellt. Sie betreuen 3.000 Hilfesuchende pro Jahr. Ein Team betreut zudem die jüdischen Schulen Wiens und eines die Bewohner und Bewohnerinnen des Maimonides-Zentrums. Über Kooperationen werden Kärntner Slowenen, aber auch schwersttraumatisierte Geflüchtete betreut. Hier lässt sich auch eine familiäre Kontinuität festmachen: Es waren Peter Schwarz’ Eltern, die gemeinsam mit anderen Mitstreitern Juden, die in den 1970er-Jahren aus der damaligen Sowjet­union über Israel nach Österreich ausgewandert waren, unter die Arme griffen. Sie wussten aus eigener Erfahrung, was es bedeutete, verfolgt zu sein, flüchten zu müssen und bei Null anzufangen.

© Daniel Shaked

Der Vater, Georg Schwarz, war in Wien geboren worden und in großbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen – die Familie betrieb eine Textilfabrik in Favoriten und wohnte in einem Ringstraßenbau. Doch die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten änderte 1938 alles. Die behütete Kindheit und Jugend wurde jäh beendet. Georg Schwarz, sein Bruder und seine Eltern flüchteten einzeln nach Palästina. Die Schwester heiratete nach Italien, flüchtete dann in die Schweiz und konnte dort die NS-Zeit überstehen.

Georg Schwarz ging zur britischen Armee und marschierte mit dieser 1945 in Wien ein. Der Bruder Nathan (Harry) kämpfte als Soldat der Jewish Brigade in Europa, danach in der Armee des neugegründeten Staates Israel und fiel 1948 kurz vor Ende des Unabhängigkeitskriegs. Georg Schwarz blieb in Wien, war in der KPÖ aktiv und lernte dort seine Frau Jutta kennen.

Sie und ihre Mutter entgingen nur knapp der Hinrichtung durch die Nationalsozialisten. Seine Großmutter sei eine resolute Frau aus einfachen Verhältnissen gewesen, erinnert sich der Enkel. Die Enttäuschung über die Sozialdemokratie hatte sie schon 1934 zu den Kommunisten gebracht. Die Familie lebte im Gemeindebau in Sandleiten, der Großvater musste in den Krieg, die Großmutter war im Widerstand aktiv. Schwarz’ Mutter wurde schon als kleines Mädchen mit ihrem Puppenwagen losgeschickt, um Flugblätter zu transportieren. Die Großmutter versteckte bei sich in der Wohnung mit dem Fallschirm abgesprungene Spione – Österreicher, die für die Sowjetunion arbeiteten. Im Februar 1945 stand die Gestapo vor der Tür. Die Großmutter und die damals 19-jährige Mutter wurden verhaftet, die Großmutter am Morzinplatz gefoltert. Dass beide der Hinrichtung entkamen, schreibt der Enkel der Gründlichkeit der Gestapo zu. „Sie wollten an Informationen kommen und bereiteten einen Prozess vor.“ Der Krieg war schneller zu Ende, als die NS-Bürokratie in ihrem Fall arbeitete.

Mit der KPÖ brachen die Eltern 1956. „Sie waren enttäuscht und hatten das Gefühl, missbraucht worden zu sein“, so der Sohn. Sie engagierten sich nicht mehr parteipolitisch, blieben aber „immer politisch aktiv, wach und hatten ein ausgeprägtes soziales Gewissen“. So wuchsen Peter Schwarz und seine beiden Schwestern in einer herzlichen Familie mit jeder Menge politischem Diskurs auf. „Es gab immer viel zu diskutieren: von Kreisky bis zur Nahostpolitik.“

Sein Vater, der im Familienbetrieb Silesia arbeitete, war eines Tages mit der Arbeitssuche eines bucharischen Juden aus der damaligen Sowjetunion konfrontiert. Er erkannte, dass dieser kein Einzelfall war. Es war eine Gruppe von zugewanderten Familien, die immer größer wurde. In dieser Zeit wollte sich die IKG mit den Sorgen der neu zugewanderten Jüdinnen und Juden nicht beschäftigen, sagt Peter Schwarz. So haben Georg und Jutta Schwarz und einige andere engagierte Freundinnen und Freunde unkomplizierte und konkrete Hilfe geleistet. Sohn Peter erinnert sich noch gut an diese Gruppe von Aktivisten. Neben den „Schwarzens“ wussten Heinz und Daisy Klein, Ruth und Werner Meron, Jytte Borge und Bruno Wittels, Familie Kösten und einige andere, dass es galt, Not zu lindern und den Start in ein neues Leben zu unterstützen.

„Meine Eltern haben uns Haltung, Engagement und Solidarität vorgelebt. Ja, das prägt. Gerade wenn es einem selber gut geht, sollte man sich um die Schwächeren kümmern, sich einsetzen.“ Für keinen Zufall hält Peter Schwarz, dass auch seine beiden Schwestern – Psychologin und Cranio-Sacral-Therapeutin Ruth Schwarz und Ärztin Sonja Meron – helfende Berufe ergriffen. Auch seine Frau, Dorith Salvarani-Drill, engagiert sich seit einigen Jahren mit dem Verein FREI.Spiel für sozial benachteiligte Kinder, viele davon aus zugewanderten Familien. Freiwillige gehen an Nachmittagen in Horte, helfen beim Aufgabenmachen und Lernen und bieten Kindern Unterstützung und Zuwendung – vor allem jenen, die dies nicht von zu Hause bekommen.

„Wenn man meint, man macht etwas ‚Sinnvolles‘, schlittert man leicht in eine Arroganz.“
Peter Schwarz

Salvarani-Drill hat zuvor viele Jahre als Juristin in einer Bank gearbeitet. Aber es wuchs bei ihr das Bedürfnis, sich sozial zu engagieren. Ähnlich war es auch bei ihrem Mann. Peter Schwarz studierte Wirtschaft und arbeitete gleichzeitig bei El Al. Danach Tätigkeit in der Werbebranche, dann Aufbau der Wiener Zweigstelle des Israelischen Verkehrsbüros. 1987 holte ihn sein Großcousin zum Familienbetrieb Tuchhaus Silesia, in dem auch sein Vater 30 Jahre arbeitete. Nach 14 Monaten wusste Peter Schwarz, dass er dort nicht glücklich wird. Anfang der 1990er-Jahre gründete er mit einer Partnerin eine Handelsfirma, die sich in der ehemaligen Sowjetunion mit dem Handel mit Maschinen und landwirtschaftlichen Produkten beschäftigte. Diese war wirtschaftlich erfolgreich, die Tätigkeit erfüllte ihn aber nicht. „Spannend war der Aufbau, aber nicht die Tätigkeit an sich.“

Er wollte seine Erfahrung „sinnvoll“ einsetzen. Wenn er dies erzählt, setzt Peter Schwarz nach: „Viele Leute machen Dinge, die kommerziell erfolgreich und auch wichtig sind. Wenn man meint, man macht etwas ‚Sinnvolles‘, schlittert man leicht in eine Arroganz. Ich weiß, dass es ein Privileg ist, ein berufliches Leben wie ich zu führen. Es gehört schon viel Glück dazu, eine Beschäftigung zu finden, die einem sinnvoll erscheint, die einen erfüllt, mit der man sich identifizieren kann.“

Schwarz wurde 1996 Mitarbeiter der damaligen Grün-Abgeordneten Terezija Stoisits im Parlament. Ihre Themen waren vorwiegend Fremdenrecht und Minderheitenpolitik. Aber auch mit dem „Schweizer Gold“ begannen sich Schwarz und Stoi­sits auseinanderzusetzen. „Bald ging es um die wirtschaftlichen Folgen der NS-Verfolgung. Dazu gab es dann auch eine parlamentarische Enquete.“ Inhalte, die auch mit der Arbeit von ESRA verknüpft sind. Dort fing Schwarz – gefragt von Elvira Glück, die sich als Direktorin um den Aufbau dieser 1994 gegründeten Organisation kümmerte – zunächst als ehrenamtlicher Mitarbeiter, bald schon angestellt als Teilzeitbeschäftigter. Er übernahm die kaufmännischen Bereiche der Organisation. Zur Entstehung und Entwicklung von ESRA trugen etliche Menschen entscheidend bei. Schwarz nennt stellvertretend den 2008 verstorbenen Psychiater Alexander Friedmann, den Psychiater David Vyssoki und die damalige Direktorin Elvira Glück.

Nach und nach beendete Peter Schwarz die Arbeit im grünen Parlamentsklub und widmete sich fortan dem Management von ESRA als Teil des dreiköpfigen Leitungsteams.

Das psychosoziale Zentrum hat sich inzwischen auch international in der Fachwelt als Spezialeinrichtung zur Beratung und Behandlung von Menschen, die unter komplexen Traumatisierungen leiden, etabliert. So wird ESRA immer wieder angefragt, wenn es etwa um schwersttraumatisierte Unfallopfer, um Missbrauchsopfer oder um Verfolgte, Gefolterte und Geflüchtete geht. ESRA kooperiert beispielsweise mit Hemayat und ist im Auftrag des Fonds Soziales Wien in Grundversorgungseinrichtungen aktiv. Dies sind Tätigkeiten, die nicht am Standort Tempelgasse durchgeführt werden, sondern bei den jeweiligen Kooperationspartnern.

Mit dem Alexander-Friedmann-Preis, der über eine private Stiftung finanziert wird, erinnert das psychosoziale Zentrum seit dessen frühem Tod 2008 an seinen Mitbegründer. Gleichzeitig setzt die Einrichtung hier aber auch Akzente im Bewusstmachen von gesellschaftlichen Schieflagen. Ausgezeichnet werden Personen, Initiativen oder Einrichtungen, die in verwandten psychosozialen Bereichen tätig sind. Zuletzt ging die Auszeichnung an Queer Base, einen Verein, der sich homosexueller Geflüchteter annimmt, die oft auch mit Diskriminierung und Verfolgung in der eigenen Herkunftscommunity kämpfen.

Stichwort Flüchtlinge: Peter Schwarz kann gut verstehen, dass sich viele Menschen innerhalb und außerhalb der jüdischen Gemeinde Sorgen um den importierten Antisemitismus machen, und teilt sie auch. „Ich gebe mich nicht der Illusion hin, dass all diese Menschen Judenfreunde sind. Aber: Bei vielen könnte es ein Umdenken geben, wenn ihnen von ESRA kompetent geholfen wird. Was sie hier erleben, steht vermutlich im Widerspruch zur Propaganda einiger der Herkunftsländer. Alle Menschen, die wir betreuen, wissen, wer wir sind. Und die meisten sind uns sehr dankbar, dass ihnen endlich jemand kompetent hilft. Natürlich gibt es Menschen, die uns ablehnen. Aber es ist sicher eine Minderheit. Diese traumatisierten Menschen nicht zu betreuen und zu behandeln, verschärft die Probleme. Viele wären arbeitsunfähig und noch näher an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt. Dies erhöht natürlich auch mögliche Bedrohungen für die gesamte Gesellschaft. Im Grunde wollen die meisten Menschen doch das, was wir auch wollen: ein normales, möglichst gutes Leben.“


Gedenkprojekt

In Zusammenhang mit dem Novemberpogrom-Gedenken anlässlich seines 80. Jahrestages werden Menschen gesucht, die diese Tage selber in Wien erlebt haben und über dieses Pogrom erzählen können, sich eventuell an Erzählungen der Eltern erinnern können. Es sollen die Erinnerungen von Jüdinnen und Juden und auch der von Passanten und allgemeinen Beobachtern erfasst werden. Falls es in Haushalten private Fotografien der Verbrechen und Verwüstungen gibt, wäre diese auch von Interesse. Dabei geht es nicht nur um die Verbrechen, die in der Tempelgasse begangen wurden, sondern um das Pogrom in ganz Wien. Sollten Sie etwas beisteuern können, bittet ESRA um Kontaktaufnahme unter
office@esra.at oder 01/214 90 14 0. 

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