Seit 10. November 2011 findet sich an der Stelle des 1938 zerstörten Turnertempels die permanente Kunstinstallation Turnertempel. Erinnerungsort. Die beteiligten KünstlerInnen, KuratorInnen und InitiatorInnen des Projekts sprachen mit wina über die Geschichte des Ortes und den vielschichtigen Zugang zu einem schmerzvoll lebendigen, urbanen Erinnerungsort. Von Angela Heide
Nur wenige Menschen im Bezirk wissen, dass hier eine der wichtigsten und größten jüdischen Gemeinden Wiens bestand“, erzählt Bettina Leidl, Geschäftsführerin der Kunst im öffentlichen Raum GmbH, die seit 2004 im Auftrag der Stadt Wien für temporäre, aber auch permanente künstlerische Projekte im öffentlichen Raum verantwortlich zeichnet. Mit Turnertempel. Erinnerungsort beendet sie ihre Tätigkeit bei KÖR mit einem der größten und komplexesten Projekte zur Erinnerung an die Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Gemeinden Wiens.
Das Besondere an der vor wenigen Wochen eröffneten permanenten Intervention an der Ecke Turnergasse/Dingelstedtgasse sei, erzählt Leidl, dass sie aus der persönlichen Auseinandersetzung vor Ort arbeitender Menschen mit der lokalen Geschichte selbst entstanden ist – eine der zahlreichen Qualitäten des neuen Denkmals, die auch der von Beginn an beteiligte Kunsthistoriker Georg Traska unterstreicht: „Das Ganze hat stark vom Ort Herklotzgasse 21 her seinen Ausgang genommen, das heißt von Michael Kofler, Alexandra Zabransky und Judith Pühringer, die sich hier mit ihren Unternehmen angesiedelt hatten.“ Den vor allem aus dem Sozialbereich kommenden InitiatorInnen wurde bald schon klar, „dass es hier nicht nur um ein Haus, sondern um eine große und sehr aktive jüdische Vorstadtgemeinde gehen würde, über die es bis dahin außer zwei, drei Artikel nichts gab“, erinnert sich Traska an die Anfänge im Jahr 2007. Das Ausgangsmaterial seiner Recherchen bildeten dabei „zahlreiche bis dahin unaufgearbeitete Kartons der Israelischen Kultusgemeinde, die man im Zuge des Verkaufs des jetzigen Brick 5 in einem Raum gefunden hatte. Diese Unterlagen stellten eine wesentliche Basis der folgenden Recherchen dar.“ Sehr früh lernte das Team auch ZeitzeugInnen kennen, mit denen in der Folge ausführliche Gespräche geführt wurden. Diese fanden 2008 in einer groß angelegten Ausstellung, im Begleitbuch Das Dreieck meiner Kindheit. Eine jüdische Vorstadtgemeinde in Wien und seit 2010 auch in den vielstimmigen Audioguides Eingang.
Eine reflexive Archäologie des Ortes
Die starke persönliche Auseinandersetzung mit dem „Dreieck meiner Kindheit“ (Moshe Jahoda) zwischen Turnertempel, Herklotzgasse 21 und Storchenschul’ bildete auch einen zent- ralen Ausgangspunkt für die beiden österreichischen KünstlerInnen Iris Andraschek und Hubert Lobnig. Ihr Konzept für eine Neugestaltung der jahrelang ungenutzten Grünfläche ging im Zuge eines von KÖR ausgelobten Wettbewerbs bereits 2010 als Siegerprojekt hervor.
„Diese ZeitzeugInnen-Berichte waren es, die den Ausschlag gaben, dass wir uns so stark mit dem Brand beschäftigt haben. Wenn man diese liest und den Stimmen der Audioguides genau zuhört, erfährt man sehr intensiv, was die Synagoge für die Menschen war und bedeutet hat – und welch einschneidendes Erlebnis der Brand der Synagoge für alle hier im Bezirk, die jüdische Bevölkerung, aber auch nicht jüdische AnrainerInnen, gewesen ist“, schildert Iris Andraschek die erste Begegnung des renommierten Künstlerpaares mit dem nicht zuletzt in der Geschichte der gesamten Wiener Jüdischen Gemeinde zentralen Ort.
„Unser Gotteshaus gilt denn auch als eines der gediegensten Tempelgebäude der Monarchie.“ (Leopold Stern, 1892) Bereits 1869 war Adolf Schmiedl zum ersten Rabbiner der zu dieser Zeit von der IKG Wien unabhängigen Kultusgemeinde Sechshaus bestellt worden. Im selben Jahr erwarb man das Doppelgrundstück Turnergasse 22, Ecke Blüthengasse (heute Dingelstedtgasse), das im Zentrum der Gemeinde lag; 1870 beauftragte man den Wiener Architekten Carl König (1841–1915) mit der Planung des ersten Vorstadttempels nach dem Vorbild des Großen Leopoldstädter Tempels. 1872 wurde der knapp 830 Plätze fassende Neorenaissancebau mit „pompejanischem“ (Leopold Stern) Innendekor fertiggestellt, 1923 durch eine Winterbetschule erweitert.
Der Turnertempel war, nach dem heute einzigen erhaltenen, ältesten Stadttempel in der Seitenstettengasse und dem Tempel in der Tempelgasse 3, der dritte Synagogenbau Wiens und zugleich der erste in einer der damals noch nicht eingemeindeten Wiener Vorstädte. Einer der wichtigsten Chronisten der Zeit, Leopold Stern, ab 1852 Kantor, Religionslehrer und Beamter der Fünfhauser jüdischen Gemeinde, beschrieb den Tempel Mitte der 1890er-Jahre als einen „auf drei Seiten freistehender Bau, welcher in den vornehmen Formen der italienischen Frührenaissance gehalten ist.“ Stern geht in seinen detailgenauen Betrachtungen auf die reich getäfelten Holzgalerien ein, auf das „aus geschnitztem Holze“ gestaltete „Allerheiligste“ nach dem Vorbild der römischen Triumphbogenarchitektur und auf die imposanten korinthischen Säulen, die „ein dreifach gegliedertes Hauptgesimse“ trugen, „über dem sich ein von Akroterien gekrönter Giebel erhebt“.