Fotograf des Aufbruchs

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Kurt Klagsbrunn, 1940er-Jahre. © Victor Klagsbrunn/Weidle Verlag
Kurt Klagsbrunn, 1940er-Jahre. © Victor Klagsbrunn/Weidle Verlag

Wie vielleicht kein anderer seiner Generation hat der aus Wien stammende Berufsfotograf Kurt Klagsbrunn die rasante Entwicklung Brasiliens ab Ende der 1930er-Jahre begleitet. Ein brandneuer Band präsentiert nun erstmals auch auf Deutsch den viel zu unbekannten jüdischen Arrangeur der großen Auftritte und kleinen Details. Von Angela Heide

Kurt Klagsbrunn gehört zu den ebenso vergessenen wie bedeutenden Fotografen Brasiliens des 20. Jahrhunderts. 1918 in Wien geboren, 2005 in Rio de Janeiro gestorben, emigrierte er 1938 mit Eltern und Bruder über Rotterdam und Lissabon in die damals rasant aufblühende brasilianische Hauptstadt. Während seiner letzten Lebensjahre, in denen Kurt Klagsbrunn, von einem Schlaganfall schwer gezeichnet, nicht mehr unbetreut bleiben konnte, begleitete ihn sein Neffe Victor, der Klagsbrunns umfangreichen fotografischen Nachlass – über 150.000 Negative sind noch heute in dessen einstigem Sommerhaus in Araras erhalten –, geerbt hat und seit bald zehn Jahren mit großer Intensität mit der Aufarbeitung des so beeindruckenden wie überraschungsreichen Œvres seines Onkels befasst ist. Im Frühling dieses Jahres erschien unter dem Titel Refúgio do Olhar A Fotografia de Kurt Klagsbrunn no Brasil dos Anos 1940 ein erster Bildband im Verlag Casa da Palavra. Mit Kurt Klagsbrunn. Fotograf im Land der Zukunft wird knapp ein halbes Jahr später der erste deutschsprachige Band dieses „am Neuen Sehen geschulten Einwanderers aus Europa“ (Seeber/Weidle) vorgestellt. Mit seinem „frischen und formbewussten Blick“ begleitete Klagsbrunn die Entstehung Brasilias, insbesondere der Bauten Oscar Niemeyers, porträtierte über Jahrzehnte die Entwicklung Rio de Janeiros, die Menschen in den Provinzen und beobachtete große Sportereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft 1950. Viel gefragt war er aber auch als Werbe-, Industrie- und Modefotograf, darunter für so bedeutende Magazine wie Life. So nennt ihn der Journalist und Fotografieexperte Klaus Honnef auch in seinem Beitrag einen der eminentesten Vertreter der sich als neues Genre abzeichnenden „Lifestyle Photography“.

Am 7. Oktober präsentieren die Herausgeberinnen, Barbara Weidle und Ursula Seeber (Österreichische Exilbibliothek), im Wiener Literaturhaus nun die erste deutschsprachige Publikation, die eine Reihe ebenso unterschiedlicher wie dichter und informationsreicher Beiträge zum Einstieg enthält, unter anderem von Erich Hackl, Klaus Honnef und Luis Krausz, gefolgt von einem Bildteil, der, wenn auch nur Bruchteile des Gesamtbestandes präsentierend, dennoch einen geschickten Bogen durch die Themen und inhaltlich-ästhetischen Schwerpunkte im Schaffen Klagsbrunns liefert.

In die aufblühende brasilianische Hauptstadt
© Victor Klagsbrunn/Weidle Verlag Aufnahmelager für europäische Immigranten, Ilha das Flores, Rio de Janeiro, 1949.
Aufnahmelager für europäische Immigranten,
Ilha das Flores, Rio de Janeiro, 1949.
© Victor Klagsbrunn/Weidle Verlag

Den Beitragsreigen eröffnet der österreichische Schriftsteller und profunde Südamerika-Kenner Erich Hackl, der sich in seiner Skizze einer Familiengeschichte der Familie Klagsbrunn widmet. Kurts Vater Leo- pold, „Leo“, Klagsbrunn, 1888 im galizischen Wadowice geboren, lebte von Kindheit an in Wien, wo er in Floridsdorf nicht nur eine beachtliche Karriere als Händler unterschiedlicher Produkte, vor allem jedoch mit seiner Kohlenhandlung machte. Bereits im März 1938 verließen Leo, seine Frau Mitzi (geb. Kohn) und die beiden Söhne Peter und Kurt Wien. Mitte März 1939 traf die Familie in Rio ein.

Während Leo bald schon erneut ein kleines Unternehmen aufbauen konnte, arbeitete Mitzi als Schneiderin. Peter wurde Vertreter von Pharma- und Parfümprodukten, heiratete 1942 die aus Berlin stammende Ingeborg Röschen und bekam zwei Kinder: Vera (geb. 1944) und Victor. Da Peter und seine Frau früh starben, wurde, nach dem Tod der Großeltern, Onkel Kurt der nächste Verwandte Victors (geb. 1946). Doch es sollte Jahren dauern, bis es, krankheitsbedingt, zur Annäherung der beiden kommen würde.

Er beobachtete und hielt die Dinge mit seiner Kamera fest
Evita Perón,  Petrópolis, 1947.  © Victor Klagsbrunn/Weidle Verlag
Evita Perón,
Petrópolis, 1947.
© Victor Klagsbrunn/Weidle Verlag

Erst in seinen letzten Jahren begann sich Kurt Klagsbrunn, der beruflich so eminente Chronist Brasiliens und speziell Rio des Janeiros (das 1939 knapp 1,5 Mio. und 1980, als er zu fotografieren aufhörte, ohne Vororte über 5 Mio. Einwohner zählte) auch mit der Geschichte seiner eigenen Familie zu befassen.

Einfach machte er es seinem Neffen bis zuletzt nicht. Dieser musste für seinen Beitrag im Band auf eine Reihe von Grundlagen zurückgreifen (von denen persönliche Gespräche kein Teil sind): „Kontakte aus seinem Engagement für linke politische Bewegungen“; „seine professionelle Tätigkeit als Fotograf für Gesellschaftskolumnen in Illustrierten und Bildberichte über die Elite des Landes“; „Aufnahmen von Prominenten aus Kunst, Kultur und Politik“ sowie „seine Akkreditierung als Fotograf im Palácio Catete, dem Sitz der Bundesregierung [Brasiliens].“ Allein diese Liste als Einstieg in Victor Klagsbrunns Text Was ich über Onkel Kurt weiß verdeutlicht das schillernde Leben dieses „beinahe unsichtbaren Fotografen“. Ob Stars, ob Models, ob Präsident Juscelino Kubitschek, ob der Kabinettchef von Präsident Dut­ra, ob Studenten bei sportlichen, aber auch politischen Aktionen: Kurt Klagsbrunn war in der Politik (sei es aktiv oder als klug geschulter Beobachter), in der High Society ebenso zu Hause wie im lokalen Leben eines Landes, dessen rapides Wachsen er mit den Augen eines Fotografen begleitete. „Der Blick des Fremden hielt Landschaften, Abendessen, gewöhnliche Menschen und ungewohnte Situationen fest […]“, schreibt sein Neffe Victor, der seit seiner Rückkehr 1987 in Brasilien als Professor für politische Ökonomie und internationale Migration tätig ist. Und gegen Ende: „Wirkliche Anteilnahme war nicht seine Sache.“

„Ich habe nie gehört, dass er irgendetwas in seinem Leben bereut hätte.“ Victor Klagsbrunn

Die beiden Beiträge von Luis S. Krausz, „Saudade“ nach Brasilien, und Klaus Honnef widmen sich schließlich vorrangig einer historisch-ästhetischen Kontextualisierung des Fotografen Kurt Klagsbrunn. Während Honnef Klagsbrunn in den Reigen bedeutender jüdischer Fotografen einreiht, geht Krausz,

Barbara Weidle, Ursula Seeber: Kurt Klagsbrunn. Fotograf im Land der Zukunft. Weidle Verlag 2013; 196 S.; 200 Fotos; 39 Euro
Barbara Weidle, Ursula Seeber:
Kurt Klagsbrunn. Fotograf im Land der Zukunft.
Weidle Verlag 2013;
196 S.; 200 Fotos; 39 Euro

Professor für hebräische und jüdische Literatur an der Universidade de São Paulo, vor allem auf dessen Bedeutung für die historische Einbettung eines Brasilien ein, das heute nicht mehr existiert; für ihn sind Klagsbrunns Bilder „wehmutsvolle Visionen einer nicht mehr bestehenden Gesellschaft, die unter dem Schutt begraben wurde, den das Fieber des Fortschritts, die Krankheit des Wachstums und die Raserei des modernen Kapitalismus zurückgelassen haben“.

Honnef schließlich liefert im letzten, dichten Text Kurt Klagsbrunn – Spezialist und Pionier der Gesellschaftsfotografie eine kleine Kulturgeschichte der „Pioniere journalisisch inspirierter Fotografie“ in Brasilien. Klagsbrunn, meint der bekannte Theoretiker, war wie viele seiner Kollegen Autodidakt; und wenn auch „kein fotografischer Pionier. […] Dafür kam er fast 20 Jahre zu spät“, so war Klagsbrunn „mit Sicherheit […] einer der eher seltenen politisch interessierten und wachen Fotografen in der Hochzeit fotografischer Reportage“.

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