„Fremdenfeindlichkeit ist wieder salonfähig geworden.“

Milli Segal leitet eine Agentur für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Veranstaltungsorganisation und Fundraising. Redaktion und Fotografie: Ronnie Niedermeyer

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Foto: Ronnie Niedermeyer

WINA: Wenn man sich die Liste der Ausstellungen anschaut, die du ins Leben gerufen hast, steht immer wieder die Schoah im Vordergrund. Was ist deine persönliche Beziehung zur Schoah?
Milli Segal: Ich gehöre zur „zweiten Generation“: Meine Eltern und meine ältere Schwester haben die Schoah überlebt. Mein Vater hat, bis auf eine Schwester, alle verloren. Meine Mutter hatte ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Mutter, die auch in Auschwitz geblieben ist. Unter dem Schatten der Schoah bin ich also aufgewachsen. Als Jugendliche hat mich das Thema genervt, weil es in der Familie ständig angesprochen wurde. Heute tut es mir leid, denn meine Eltern haben einiges erzählt, und ich habe nichts davon aufgenommen. Nun sind ihre Zeitzeugenberichte für immer verloren. Erst vor zwölf Jahren begann für mich ganz zufällig die berufliche Auseinandersetzung mit der Schoah im Rahmen einer Zusammenarbeit mit dem israelischen Moreshet-Institut. Es ging um die Ausstellung Frauen im Widerstand, die ich nach Wien bringen sollte. Um dafür öffentliche Gelder zu beziehen, brauchte es aber einen Österreich-Bezug. Vertreten waren zwar Frauen aus Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei, aber keine Österreicherinnen. Also recherchierte ich über sieben österreichische Widerstandskämpferinnen und bezog sie in die Ausstellung mit ein. Damit hat alles begonnen.

Unter ihrem damaligen Vorstandsvorsitzenden Christian Kern setzten sich die Österreichischen Bundesbahnen mit ihrer Vergangenheit im Nationalsozialismus auseinander. Du wurdest beauftragt, eine Ausstellung zu diesem Thema zu kuratieren. Wie kam es dazu?
❙ Der damalige Pressesprecher trat mit dem Auftrag an mich heran. Die Initiative kam zu hundert Prozent von Kern, den ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannte. Ich durfte die ganze Zeitgeschichte aufarbeiten: Dementsprechend gliedert sich die Ausstellung in Alltag, Machtübernahme, Emigration, Kindertransporte, Deportation, Widerstand sowie das tägliche Leben der Bahnbeamten. Besonders stolz bin ich auf eine Karte, auf der die genauen Entfernungen zwischen Wien und den Konzentrations- und Vernichtungslagern eingezeichnet sind – wie auch die Anzahl der Menschen, die dorthin deportiert wurden. Die Ausstellung wurde 2012 eröffnet, danach an unterschiedlichen Orten gezeigt und ist jetzt in einer Ausbildungsstätte der ÖBB bei Sankt Pölten fix stationiert. Auch das hat Christian Kern unmittelbar vor seinem Wechsel in die Politik noch bestimmt.

»Spricht man mit jungen Menschen, merkt man, dass es für die Zukunft Hoffnung gibt.«

 

Fährt Kern als Bundeskanzler in Bezug auf den korrekten Umgang mit dem Judentum den Kurs weiter, den er als ÖBB-Chef gesetzt hat?
❙ Ja, das ist ihm wichtig. Er ist auch stolz darauf, dass ihm von der Israelitischen Kultusgemeinde die Torberg-Medaille verliehen wurde.

Die Ausstellung Verdrängte Jahre sollte nicht deine letzte Zusammenarbeit mit der Bahn werden. Soeben wurde das Deportationsmahnmal am Aspangbahnhof enthüllt, dessen Gestaltung du mitbestimmt hast.
❙ Initiator war Leo Luster, der vom Aspangbahnhof deportiert wurde. Da Leo schon sehr krank war, bin ich statt ihm in der Jury gesessen. Inzwischen ist er leider verstorben.

Wieso ist es wichtig, mehr als siebzig Jahre nach Ende der Schoah immer wieder neue Ausstellungen darüber zu machen?
❙ Wir leben in einer Welt, in der Gewalt zur Norm gehört. Das Traurig-Besondere an der Schoah ist, dass sie ein fabriksmäßiges Morden war. Schrittweise und systematisch wurden Menschen entmenschlicht und alles an ihnen verwertet. Das soll nicht in Vergessenheit geraten. Ich sage das nicht etwa, weil ich Jüdin oder direkte Nachfahrin Überlebender bin – sondern um zukünftigen Generationen zu zeigen, welche Fürchterlichkeiten in menschlichen Köpfen entstehen können. Hätte das Naziregime im Volk keine Unterstützung gefunden, wäre alles in Luft aufgegangen. Ohne die unzähligen Mit- und Folgetäter, die voll dahinter standen, wäre die Schoah nie möglich gewesen.

Ist es durch den aktuellen Rechtsruck in der Politik notwendig geworden, wieder verstärkt an die Schoah zu erinnern?
❙ Notwendig war es immer. Jetzt ist es aber besonders wichtig, weil Fremdenfeindlichkeit wieder salonfähig wird. Meinungen älterer Menschen werden sich nicht mehr ändern: Die Zeit, als ihnen diese Ideen in den Kopf gesetzt wurden, liegt schon zu lange zurück. Wenn man aber mit den Jungen spricht, merkt man, dass es für die Zukunft Hoffnung gibt.

1 KOMMENTAR

  1. Für meine Mitmenschen, die unüberlegten Antisemitismus an den Tag legen, schäme ich mich sehr.
    Selbst bin ich in einem kleinen Dorf aufgewachsen, wo Rechtsextremismus und Antisemitismus Alltag gewesen ist. Durch meinen Kontakt zu ausländischen Freunden in meiner Jugend, wurde ich von Rechten verfolgt, geschlagen und gedemütigt – sowie als Außenseiter behandelt. Manchmal hat man das Gefühl gegen Windmühlen zu kämpfen. Wenn ich sehe dass diese Leute heute selbst Kinder haben, wird mir regelrecht schlecht. Weiterhin das Thema AFD. Wie soll man mit diesen Menschen umgehen? Nach nur rund 70 Jahren Genozid an Juden …die sollen sich schämen.

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