Zu G-tt tanzen

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Wenn die Juden Neujahr feiern, herrscht in Uman Ausnahmezustand. 25.000 Chassidim aus aller Welt reisen jedes Jahr in die verarmte ukrainische Provinzstadt, um bei ekstatischen Feiern am Grab des Rabbi Nachman Glück und Nähe zum Schöpfer zu suchen. Je lauter es dabei zugeht, desto besser. Von Cathrin Kahlweit   

„… die Welt ist groß, und die Wege zu G-tt sind vielfältig.“ Steven Schissel

Der Lärm ist unbeschreiblich, denn es ist Jahrmarkt in Uman. Alle paar Meter ein anderer Lautsprecher, ein anderes Lied aus einer anderen Anlage.

nana2In einer Stunde aber, wenn die Sonne untergegangen sein wird und das jüdische Neujahrsfest beginnt, werden die Lautsprecher abgebaut sein, dann werden Tausende Greise, Männer in den besten Jahren, aber auch kleine Jungen drei Tage lang, bis zum Schabbat, aus eigener Kraft singen. Sie werden musizieren, tanzen, beten und feiern, wie Rabbi Nachman es ihnen vor mehr als 200 Jahren aufgetragen hatte. Sie werden Hörner und Posaunen blasen, werden einander in die Arme fallen und in Ekstase geraten, werden Tanzkreise bilden, hüpfen und springen, dass die staubige Erde bebt und die Hauswände zittern.

nana3Und die Einwohner von Uman werden gut daran verdienen, sich aber dennoch in ihre Häuser verkriechen und entnervt die Köpfe schütteln.
Bis dahin will alles gut vorbereitet sein. Friseure scheren ihren Kunden auf offener Straße die Haare, Reste von schwarzen Locken schweben im kalten Herbstwind über den Asphalt. Ohrringe werden noch schnell gekauft für die Ehefrauen, die daheim bleiben mussten, denn Frauen sind unerwünscht, wenn die Chassidim, die frommen Juden, Rosch Haschana feiern.

Die Söhne, die ihre Väter begleiten durften, bekommen ein neues Spielzeug in die Hand gedrückt. Handtücher werden gekauft für das reinigende Bad und weiße Kittel zum Überziehen, sie symbolisieren die Reinheit des Neuanfangs. Fliegende Händler verkaufen Luftmatratzen für zwanzig Dollar das Stück an die armen Kerle, die kein Zimmer gefunden haben. Sie bieten auch rare Restplätze für 50 Dollar im Großzelt; für echte Betten in echten Zimmern, mit Klo und Heizung gar, werden in der ukrainischen Provinz ein paar Hundert Dollar pro Nacht gefordert – und gezahlt.

nana4Es herrscht Ausnahmezustand in Uman. Etwa 25.000 chassidische Juden aus aller Welt, aus den USA und Israel, aber auch aus Argentinien, Südafrika und Russland, sind in die staubige, verarmte ukrainische Provinzstadt zwischen Kiew und Odessa gekommen. Sie feiern das Jahr 5775 gemäß dem jüdischen Kalender am Grab des Rabbis von Bratzlaw, der ihnen genau dies einst aufgetragen hatte: nach Uman zu kommen, an seine Grabstelle die Freude, das Glück zu suchen – und gemeinsam G-tt nahe zu sein. Und, wenn es der Glückssuche zuträglich ist, auch laut und albern zu werden.

Nachman war ein Urenkel des legendären Rabbis Baal Schem Tow, in Europa besser bekannt als Israel Ben Elieser. Der wiederum gilt als Begründer des Chassidismus in Osteuropa, einer religiösen, ins Mystische reichenden Erweckungsbewegung frommer Juden. Für viele Ultraorthodoxe ist Nachman bis heute einer der wichtigsten Zaddiks, der weisen Rabbis. Und er wird immer populärer. Schlüpften Anfang der Sechzigerjahre, als Uman noch eine geschlossene Stadt mit sowjetischer Rüstungsindustrie war, nur einzelne Pioniere aus dem Westen auf der Suche nach dem Grab ihres Vorbilds und Vordenkers durch den Eisernen Vorhang, so sind es mittlerweile Zehntausende.

Die Anhänger Rabbi Nachmans

na11Da sind Männer in langen, schwarzen Mänteln und schwarzen Hüten, Männer in weißen Übermänteln und mit weißen Strümpfen. Männer mit steifen, kreisrunden Pelzmützen, Kappen aus Hasenfell oder weißen Kippas, manche haben ihren Gebetsriemen um den Arm gewunden, fast alle tragen Schläfenlocken. Es ist, als wären die Einwohner von Mea Shearim, dem Viertel der orthodoxen Juden in Jerusalem, gemeinsam mit den Bewohnern einiger Straßenzüge von Brooklyn kollektiv in die Ukraine umgezogen, aber das täuscht: Rabbi Nachman hat durchaus auch Anhänger unter Nichtorthodoxen, Hippies und jungen Pazifisten. Durch die Straßen ziehen Jugendliche in Hilfiger-Anoraks oder Sweatshirts, mit Rastalocken und Leinenhemden zu Shorts und Sandalen: Downtown Manhattan kombiniert mit dem Oregon Trail.

„Rabbi Nachman war offen für alle, er war ein Mensch, er sah den Kern der Dinge.“ Chaim Kramer

na22Der Rabbi hatte gepredigt, was heute bei vielen kriegsmüden, zivilisationskritischen Juden ankommt und was die Anhänger anderer chassidischer Lehrer für unerträglich halten: eine – auch körperliche – Anstrengung gegen die Verzweiflung. Was den Menschen im Leben erhalte, seien Glaube, Ermutigung, Freude, Gesang, Tanz, ständige Selbstkritik, Sehnsucht nach einer direkten Beziehung zum Schöpfer, Körperlichkeit, Dialog.

Und so streben während des Fests unüberschaubar viele Menschen zum Grab des Predigers, das dort, wo einst der jüdische Friedhof war, mit einer niedrigen Industriehalle überbaut ist; sie dient heute als Gebetsraum. Oder sie ziehen weiter, hinab zu einer Senke am Ende der Straße, wo sich zwei Teiche befinden. Dort ermordete die SS all jene Juden, die noch nicht von Stalins Schergen deportiert worden waren. Zwei Jahrhunderte zuvor, in einem der größten Pogrome vor dem Nationalsozialismus, waren hier von Kosaken bis zu 20.000 jüdische Einwohner Umans hingeschlachtet worden.

Moderner Ablasshandel

na33Die Bewegung der Bratzlawer Chassidim ist im Kern reaktionär und apolitisch. Und doch: Während die arabische Welt im Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten versinkt, während die Mörder des IS wahllos Muslime abschlachten, während man in Israel und Palästina noch Atem holt nach dem jüngsten Aufflammen des Kriegs, beten die Fans des Rabbis in Uman für eine gute Zukunft und reden vom inneren Frieden.

Und die Stimmung könnte nicht besser sein. Der moderne Ablasshandel floriert vor dem Fest. Ein Straßenhändler verkauft Zettel, auf denen die Sünden schriftlich erlassen werden. Zusätzlich kann angekreuzt werden, ob man mehr Erfolg haben möchte im nächsten Jahr, eine bessere Ehefrau oder mehr Gesundheit. Oder ob man für Freunde und Verwandte G-ttes Segen erbitten will – je mehr Dollar gezahlt werden, desto mehr Segen. Michael aus Cleveland, Ohio, setzt 200 Dollar ein. Viel hilft viel.

„Nicht alles, was hier getan und verkauft wird, ist so ganz in unserem Sinne“, sagt Steven Schissel und grinst entspannt, „aber die Welt ist groß, und die Wege zu G-tt sind vielfältig“. Schissel ist Buchhalter der Organisation Ichud Breslov in Uman, was sinngemäß so viel heißt wie „Vereinigung der Bratzlawer Chassiden in Uman“. Bratzlaw, auf Englisch Breslov, war jenes Städtchen, in dem Nachman Anfang des 19. Jahrhunderts eine Weile lebte, bevor er nach Uman zog, wo er an Tuberkulose starb.

na44Die Organisation wird von drei Jerusalemer Brüdern betrieben. Sie sind es im Wesentlichen, die jedes Jahr den Massenansturm auf das Grab des Rabbis planen, der die Stadt für kurze Zeit in ein neues Jerusalem verwandelt. Die Kommune stellt den Organisatoren dafür eine saftige Rechnung, für Müllabfuhr und Miliz, für Strom und Licht, die Anwohner vermieten jedes noch so kleine Loch an die Gläubigen aus aller Welt; diese kommen für ein paar Tage, manche für eine Woche – und gehen, sagt Schissel, als „bessere Menschen“. Eine Win-win-Situation für alle Seiten.

Schissel, ein gut gelaunter, korpulenter Kommunikator in Gummisandalen, hat vor sich eine große Kasse, in der Spenden für das geplante Gemeindezentrum gesammelt werden. 22.000 Gläubige soll es beherbergen und eines Tages die Übergangszeit der improvisierten Synagogen beenden. Eine Schule und eine Mikwa soll das Zentrum haben, und endlich sollen alle unter einem Dach gemeinsam zu G-tt beten können. Aber das ist Zukunftsmusik, bisher existiert von dem gigantischen Gebäude nicht viel mehr als ein Werbeplakat, und es ist nicht ausgemacht, ob die Stadtvätern von Uman das wollen: ein steinernes Monument für die Rückkehr der Chassidim, deren Bewegung hier, in den Schtetln Osteuropas, ihren Ausgang genommen hatte.

Der Buchhalter der Bewegung gibt gern Auskunft über sein Leben als Anhänger des Rabbis, der ihn, einen New Yorker Computerspezialisten, erst in seinen Bann, dann nach Israel und schließlich in die Vereinigung der Bratzlawer Juden zog. „Hier zu sein, macht mich glücklich, ich tanke Kraft für das kommende Jahr“, sagt er. Allerdings seien in diesem Jahr ein paar Tausend weniger gekommen als sonst. Der Krieg in der Ostukraine habe sie abgehalten, glaubt Schissel, dabei sei die Wahrscheinlichkeit, dass eine palästinensische Rakete in Tel Aviv niedergehe, weit höher als die Gefahr, von einer Granate prorussischer Separatisten zerfetzt zu werden. Uman liegt 250 Kilometer südlich von Kiew entfernt, der Donbass ist weit. „Aber die Macht der Bilder und des Unbekannten – was soll man machen?“

na55Seine drei Chefs, elegante Herren in schwarzen Mänteln und schwarzen Hüten, mit gepflegten Bärten und langen Schläfenlocken, verschwinden in der angrenzenden Küche, um die letzten Vorbereitungen für den Abend zu diskutieren. Dass eine Reporterin in ihrem Büro hockt, ist ihnen erkennbar unlieb. Eine Frau bleibt eine Frau, auch wenn sie einen langen Mantel trägt und ihr Haar bedeckt hat.

Mit G-tt ins Gespräch kommen. Auf der Puschkinstraße, gerade mal einen Kilometer lang, ist unterdessen kein Durchkommen. Die Verkehrssprachen sind Hebräisch, Englisch und Jiddisch, gezahlt wird in Dollar. An den Hauswänden hängen die Flugpläne von Kiew nach Tel Aviv und New York aus, an den Häusern sind in hebräischen Schriftzeichen Hinweisschilder für Kantinen, Gebetsräume oder Hotels mit Phantasienamen wie „Pearl Castle“ angeklebt. Und zwischen den wachsenden Müllbergen umarmen einander fromme Juden aus aller Welt, die sich hier zufällig begegnen, die sich von daheim kennen oder sich in Uman, am Ende der Welt, verabredet haben. Wie jedes Jahr.

In einer Nebenstraße residiert Rabbi Chaim Kramer in einem gelben Häuschen, das mit den Worten „Ritz Carlton“ beschriftet ist – trockene Ironie angesichts der Umstände. Kramer hat das Breslov Research Institute gegründet, das die Lehren von Rabbi Nachman in allen Weltsprachen vertreibt. Eben noch hat er über seine „kommunistische Reise nach Uman“ referiert; er war unter den Ersten gewesen, die im Kalten Krieg das Grab aufsuchten, bevor unter Michail Gorbatschow auch Intourist kleine Gruppenreisen anbot. Kramer gehört auch zu jenen, die aus der einstigen Sekte eine große Gemeinschaft gemacht haben.

Der alte Herr mit langem weißen Bart offeriert Kekse und Coca-Cola, während er Nachmans Weisheit preist: Der habe schon vor 250 Jahren an das Universelle im Menschen appelliert. „Er war offen für alle, er war ein Mensch, er sah den Kern der Dinge. Er predigte die Kommunikation, die Verständigung. Heute reden die Leute nur per Telefon miteinander.“ Auch Kramer verlangt daher von seinen Anhängern, dass sie glücklich sind oder zumindest daran arbeiten, wenn die Umstände es nicht erlauben. Man müsse, sagt er aufgeräumt, das Beste aus dem Leben machen, Wahrheit, Ehrlichkeit suchen.

Große Worte, die an Rosch Haschana vor allem Taten erfordern. Denn die Sonne ist untergegangen, alle streben in die Synagogen. Danach ist die Zeit zum Tanzen, Singen, Lachen. Stundenlang, mit aller Kraft. Ein neuer, gewaltiger Lärm erhebt sich über der Puschkinstraße, Tausende hüpfen wie die Derwische, werfen ihre Hüte in die Luft, einer schlägt Salti. Andere haben den Blick zum dunklen Himmel erhoben und beten laut inmitten des Trubels. Für Ungläubige ist es ein pittoreskes, bisweilen auch groteskes Spektakel, eine Mischung aus Ballermann und Mekka. Für die Bratzlawer Chassidim ist es die schönste Art, mit G-tt ins Gespräch zu kommen. ◗

© flash 90/Yaakov Naumi; Yuval Nadal

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