Gay Pride Parade, New Family und Kinderwunsch

1679
Wunsch-Kind.

Wenn es um das Thema Nachwuchs geht, stellt Israel eine seltene Kombination in der westlichen Welt dar. Traditionelle Werte werden hier mit einem modernistischen Ansatz auf individuelle Selbstverwirklung vereint. Nachrichten aus Tel Aviv von Gisela Dachs

Die Regenbogenflagge hängt noch immer an vielen Fenstern. Manche bleiben dort das ganze Jahr über, andere verschwinden wieder nach der alljährlichen Gay Pride Parade, die dieses Jahr wie immer an einem Freitag im Juni stattfand. Und längst hat man sich daran gewöhnt, dass die gesamte Bograshow und andere Straßen in Meeresnähe fast den ganzen Tag über für den Verkehr gesperrt waren. Die Tel Aviver haben dafür jede Menge Verständnis. Homosexuelle und Lesben gehören zum Alltag, wenn auch nicht immer so offensichtlich.

„Jedes schwule Paar, das ich kenne, möchte mindestens zwei Kinder.“ Ron Poole Dayan (dreifacher Vater)

An der diesjährigen Parade nahm auch das erste offizielle französische Ehepaar bestehend aus zwei Männern teil. Vincent Autin und Bruno Boileau hatten kurz zuvor ihre historische Hochzeit in Montpellier gefeiert, nachdem Frankreich als 14. Land weltweit ein Eherecht für gleichgeschlechtliche Paare eingeführt hatte. Gemeinsam hatten der Tel Aviver Bürgermeister Ron Huldai und der französische Botschafter Christophe Bigot die beiden Franzosen als Ehrengäste eingeladen; dabei wurde ihnen auch ein „Tel Aviv Pass“ ausgehändigt.

Zwiegespalten

Das frische Paar war zum ersten Mal in Israel und wunderte sich ein bisschen über die hiesigen Verhältnisse. Einerseits hätten gleichgeschlechtliche Paare hier immer noch nicht die Möglichkeit zu heiraten, sagte Vincent Autin, andererseits handle es sich um ein progessives Land, das ihnen die Adoption erlaube.

Wie andere westliche Länder hat Israel in den letzten Jahrzehnten in dieser Hinsicht einen weiten Weg zurückgelegt. Zwar gibt es nach wie vor keine gleichgeschlechtlichen Eheschließungen (ebenso wenig wie zivile Eheschließungen überhaupt), wie sie gerade – unter nicht wenig Protest – in Frankreich eingeführt wurden, aber man ist viel weiter, wenn es um unorthodoxe Familienplanungen geht. Seit fast dreißig Jahren gibt es Samenbanken, von denen schon lange alleinstehende Frauen und Lesben-Paare Gebrauch manchen, um zu einem eigenen Kind zu kommen. Mittlerweile aber ist auch von einem regelrechten Babyboom bei schwulen Paaren die Rede. Man kann sie immer häufiger sehen: zwei strahlende Väter, die gemeinsam und stolz den Kinderwagen schieben.

Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern herrscht jetzt auch beim Wunsch, die Gene verstorbener Ehepartner an künftige Kinder weiterzugeben.

Auf der Gay Parade 2012 stand solchen Vätern ein Ehrenplatz zu. „Jedes schwule Paar, das ich kenne, möchte mindestens zwei Kinder“, sagt der dreifache Vater Ron Poole Dayan, der mit einem Kanadier verheiratet ist. „Manche werfen uns vor, dass wir uns dem Mainstream anzupassen versuchen, aber das ist nicht so. Viele von uns teilen einfach die Werte dieser Gesellschaft. Und in Israel ist Familie alles.“ Im März 2009 gewährte die nationale Versicherungsanstalt auch erstmals zwei Männern, die per Eizellenspende und Leihmutter in Indien einen Sohn bekommen hatten, „Mutterschaftsurlaub“.

Tatsache ist auch, dass sich nirgendwo Frauen so intensiv Fruchtbarkeitsbehandlungen unterziehen, die in der Regel voll vom Staat bezahlt werden. In ihrem gerade erschienenen Buch Die Fruchtbarkeitsrevolution beschäftigt sich die israelische Soziologin Yael Hashiloni-Dolev eingehend mit dem Thema. Sie führt den unbedingten Kinderwunsch auf „das Trauma der Schoa, den demografischen Kampf und die Familienorientiertheit der gesamten Gesellschaft“ zurück. Diese Haltung mag auch mit von der Tatsache geprägt sein, dass das zionistische Unterfangen ein Gemeinschaftsprojekt war. Die Israelis begründeten die Kibbuzim – in denen es kein Privateigentum gab –, sie kämpfen Seite an Seite in der Armee und sie sind überhaupt gerne in Gruppen zusammen. Außerdem treffen sie sich regelmäßig im größeren Familien- und Verwandtenkreis – inmitten vieler Kindern.

Das hat zu einer seltenen Kombination geführt, die es so vielleicht nur in Israel gibt. Für die Wissenschaftlerin Sigal Goldin werden da traditionelle, kollektivistische Werte wie Familie, Elternschaft und Nachwuchsdenken gepflegt und diese mit modernistischen Ansätzen vereint, nämlich dem Recht des Individuums und dem Recht auf Elternschaft – als persönlicher Anspruch auf Glück, Wohlbefinden und Selbsterfüllung.

Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern herrscht im Übrigen jetzt auch beim Wunsch, die Gene verstorbener Ehepartner an künftige Kinder weiterzugeben. So dürfen heute Witwen nicht nur die Spermien ihrer verstorbenen Ehemänner zur Fortpflanzung benutzen, sondern auch Witwer die eingefrorenen Eizellen ihrer verstorbenen Ehefrauen. Einen weiteren legalen Durchbruch feierte die Tel Aviver Rechtsanwältin Irit Rosenblum an der Spitze ihrer Organisation New Family, nachdem in einem neuen Fall nun auch Großeltern ein Recht auf Enkelkinder verbrieft wurde.

Biologisches Testament

Es geht dabei um die Anerkennung eines „biologischen Testaments“. Die Eltern eines vor sechs Jahren an Krebs verstorbenen Mannes hatten sich an eine junge alleinstehende Frau gewandt, die sehr gerne Kinder haben wollte, den Gang zur anonymen Samenspende jedoch scheute. Alle drei zogen deshalb vor die Richter, wo sie zwar kein schriftliches Testament vorlegen konnten, aber Erinnerungen an wiederholte Aussagen des Verstorbenen, dass sein eingefrorener Samen auch nach seinem Tod verwendet werden dürfe. Das Gericht willigte ein und sein Samen wurde postum für eine künstliche Befruchtung verwendet.

Im Juni kam jetzt seine Tochter zur Welt. Ihr Erzeuger ist zwar schon lange tot, aber die Kleine hat jetzt zumindest sehr glückliche Großeltern. Irit Rosenblum hält das für gute Nachrichten für alle Beteiligten: für die Frau, die als Alleinstehende einen neuen Weg der Mutterschaft geht, weil es ja so einen Opa und eine Oma väterlichseits gibt; für das Kind, das im Wissen um seine genetische Herkunft aufwächst, und für die trauernden Eltern, die ihr Kind verloren haben, aber sich jetzt dennoch über Enkel freuen dürfen.

„Alle waren sehr aufgeregt“, erzählt Rosenblum nach der Geburt. „Die Welt dieser Menschen ist vor sechs Jahren zusammengebrochen, und jetzt gibt es plötzlich diesen Lichtstrahl in ihrem Leben. Kein Psychologe hat geschafft, was dieses Baby vollbrachte. Das Mädchen trägt nicht die Bürde der familiären Vergangenheit; sie hat den Weg in die Zukunft gebahnt.“ Hunderte todkranke Patienten haben in den letzten Jahren solche Hinterlassenschaften unterschrieben; zwei Frauen, die auf diese Weise schwanger geworden sind, tragen gerade noch ihre Babys aus.

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here