Gebt der Kultusgemeinde ihre Geschichte zurück!

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Das jüdische Wien hat sich seine Geschichten hart verdient. Die Todescos bauten ein Ringstraßenpalais – wir kennen es alle, fahren täglich daran vorbei. Einer leeren Fläche aber gleicht das Gedächtnis. Wer hat dort gewohnt, gelebt, gearbeitet? Das Erbe der Nazizeit ist schwer erträglich in seiner Schwammigkeit, denn Neid machte auch vor dem Erzählen nicht halt. Jede Erinnerung scheint ausgelöscht. Eine Serie von Tina Walzer   

Innovationsfreude, Technologietransfer und Integration – die Eckpfeiler der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG) sind eine Erfolgsstory der Geschwindigkeit, in der industriellen wie in der digitalen Revolution. Die IKG verjüngt sich gerade, baut erfolgreich neu auf. Ihre Gründerväter schufen mit vergleichbarem Pioniergeist unser modernes Wien, und wir nutzen es, tagaus, tagein – nur das Andenken seiner Schöpfer findet nicht mehr statt. Es ist höchste Zeit, Vergessenes wiederzubeleben: die Erfolgsgeschichten des jüdischen Wien.

Ladies first

Zu den 71 Gründungsmitgliedern der neuen Kultusgemeinde zählte am 18. März 1829 eine ganze Reihe tatkräftiger Frauen: Rosalie Levi, Magdalena Leidesdorff, Rosalie Trebitsch, Julie Landauer, Elisabeth Sichrovsky und Amalia Kohn. Elisabeth Sichrovsky ist die Mutter des Nordbahn-Pioniers Heinrich, der für seine Leistungen zum Ritter ernannt wurde. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Moses war sie Ende des 18. Jahrhunderts aus Prag nach Wien gekommen. Das Ehepaar fasste trotz widriger Niederlassungsbedingungen wirtschaft-
lich Fuß, man konnte es sich leisten, die Kinder gut ausbilden zu lassen. Damit war, wie sich bald herausstellte, eine der wichtigsten Grundlagen für Wiens weiteren Aufstieg geschaffen. Ihr Ältester, Heinrich, wurde Prokurist einer Bank und freundete sich dort mit dem Enkel seines Chefs an, des berühmten Michael Lazar Biedermann.

Pioniere der Dampfeisenbahn

Als Klein-Samuel Biedermann (wie es in besseren Kreisen üblich war) auf Bildungsreisen durch ganz Europa entsandt wurde, durfte der Jugendfreund mit. In England studierten die beiden begeistert die Möglichkeiten der Dampfeisenbahn, für Heinrich Sichrovsky „das achte Weltwunder“. Voll Tatendrang kamen sie zurück ins provinzielle, hoffnungslos altmodische Wien. Visionär sahen sie, inzwischen erwachsen, die Möglichkeiten der neuen Transportwege für die Monarchie voraus und verfolgten geduldig ihr Ziel, bis sie nach einem Herrscherwechsel tatsächlich die Kaiser-Ferdinands-Nordbahn bauen durften – Österreichs erste Eisenbahnlinie. Heinrich Sichrovsky verdankt die Kultusgemeinde übrigens auch die Vergrößerung ihres Friedhofes in Wien-Währing. Auf Vorschlag des damaligen Oberrabbiners Isak Noah Mannheimer kaufte er der Kehile ein Grundstück für den jüngsten Teil des Areals, genau dort, wo heute der „Arthur-Schnitzler-Hof“ steht.

Andere Förderer des öffentlichen Transports, in diesem Falle der Raaber* Bahn (Ungarische Westbahn), aus der Nachkommenschaft Samson Wertheimers, setzten sich ebenfalls für die neuen Kultusgemeinde-Statuten ein, Ernst und Bernhard Wertheim. In schönster Familientradition setzten sie das Erbe ihres berühmten Vorfahren auf zeitgemäße Weise fort. Dieser hatte die Wiener Juden bei der zweiten Vertreibung von 1670 in die Sieben Heiligen Gemeinden, gleich jenseits der Grenze, nach Ungarn ins Exil geführt und noch als ungarischer Landesrabbiner immer die Verbindung zu Wien aufrechterhalten, war er doch auch Hoffaktor beim Kaiser. Mit der Raaber Bahn modernisierten die Wertheims zwei Jahrhunderte später die damals aufgebaute wirtschaftliche Infrastruktur. Die Bahnlinie wurde zum Herzstück des ungarischen Außenhandelsnetzes. Heute ist sie Teil der europäischen Eisenbahnmagistrale von Paris bis Istanbul, am Kreuzungspunkt der einstigen Raaber Bahn und der Gloggnitz Bahn (der späteren Südbahn) entsteht derzeit Wiens Hauptbahnhof.

Wohltäter und Fabrikant

Der Bahnbau erschloss das Umland der Hauptstadt für die Industrieproduktion. Entlang der Strecken entwickelten sich zahlreiche Betriebe, etwa die Zuckerfabriken der späteren Familie Bloch-Bauer (Klimts „Goldene Adele“) in Bruck an der Leitha, aber auch die Textilproduktion in Gramatneusiedl, genauer: dessen Industriezone „Marienthal“. Einer der innovativsten Unternehmer war Hermann Todesko. Sein Vater Ahron Hirschl war ein Seidenfabrikant aus Preßburg, seine italienischen Kunden nannten ihn der Einfachheit halber „Tedesco“, während er für die Preßburger bald nur mehr der „Welsche“ war. Beeindruckt nahm Ahron das nobel sefardisch klingende Todesko anstelle des prosaischen Hirschl an – der Namenswechsel markierte gesellschaftlichen Aufstieg. Der Sohn, dem Grundsatz der Zedakah verbunden, verlieh dem wirtschaftlichen Erfolg sichtbaren Ausdruck durch die Schaffung beeindruckender Sozialeinrichtungen – der Stadt Preßburg schenkte er mehrere Schulen, auf dem Fabriksgelände Marienthal ließ er Arbeiterwohnheime sowie Kindergarten und Schule für den Nachwuchs seiner Beschäftigten errichten. Eine der weltweit berühmtesten soziologischen Studien beschäftigte sich 1930 mit den „Arbeitslosen von Marienthal“**. Das Gelände existiert noch, seit 1962 als Standort des Acrylglasproduzenten Evonik-Para-Chemie Ges.m.b.H.

Palais Todesco

Direkt gegenüber der Wiener Staatsoper steht das von 1861 bis 1864 von Ludwig Förster und Theophil von Hansen erbaute Ringstraßenpalais. Die Prunkräume dienen derzeit einem Restaurationsbetrieb, Hansens Innengestaltung kann man beim Sonntagsbrunch studieren. An den üppigen Deckenfresken arbeitete der junge Maler Christian Griepenkerl mit. Wer weiß, was geschehen wäre, hätte dieser als Professor an der Akademie der bildenden Künste seinerzeit den untalentierten Postkartenmaler Adolf Hitler als Studenten akzeptiert?

Die Herbstveranstaltungen am jüdischen Friedhof Währing:
Freiwilligentage: 14.9., 2.11.2014
jeweils 11 bis 16 Uhr
Führungen: 19.10., 26.10., 9.11.2014
Anmeldung: Grüner Klub im Rathaus
(Fr. Karin Binder)
Die Areale in der Seegasse, am Döblinger Friedhof und am Zentralfriedhof sind frei zugänglich.

 * heute Győr, Ungarn

** Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld, Hans Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal.
Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Leipzig 1933.

© Mit freundlicher Genehmigung Jüdisches Museum Wien, Archiv.

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