„Gegenseitige Sympathie ist für die Therapie unerlässlich“

Ruth Werdigier arbeitet seit den 1970er-Jahren als Psychotherapeutin und Coach in Wien.

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© Ronnie Niedermeyer

WINA: Wie unterscheiden sich die Belange Ihrer Klienten früher und heute?
Ruth Werdigier: Was mir heute mehr als früher auffällt, ist, dass es bei jungen Männern vermehrt die Tendenz gibt, sich den Anforderungen des Berufslebens zu verweigern. Sie bleiben länger von den Eltern abhängig und vermeiden es – aus Angst vor dem Scheitern –, zu Prüfungen zu gehen beziehungsweise sich für einen Job zu bewerben. Weiters fällt mir auf, dass mehr Partner und Partnerinnen von narzisstischen Menschen meine Praxis aufsuchen. Sie leiden in der Beziehung darunter, zu wenig Zuneigung, Verständnis und Anerkennung zu bekommen. Die Schwierigkeit besteht darin, den Partner dazu zu kriegen, in eine Therapie mitzukommen.

Welche kulturell bedingten Probleme werden an Sie herangetragen?
Besonders in bikulturellen Partnerschaften entstehen Probleme, wenn Frauen sich zu sehr emanzipieren wollen oder Jugendliche sich aus der Kultur der Eltern zu sehr entfernen. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, dass manche zur Kultur ihrer Eltern zurückkehren wollen und der Partner das nicht mittragen will.

»Mit einer Metapher kommt die Botschaft
besser herüber.
«

Welche eigene Herangehensweise bietet Ihnen das Judentum in Ihrer beruflichen Praxis?
Da ich in einem sehr traditionellen Elternhaus aufgewachsen bin, erlebe ich das Wissen, das ich mir dort angeeignet habe, als einen großen Reichtum an Denkanstößen, Geschichten und Humor. Die talmudische Weltanschauung hat, glaube ich, meinen Geist geschärft, Situationen und Sachverhalte aus verschiedenen Perspektiven sehen zu können und dadurch manchmal zu unkonventionellen Lösungen in der Psychotherapie zu kommen. Meine Klienten mögen meine Metaphern und können sich die Botschaft besser merken, wenn sie in eine Geschichte verpackt ist.

Welche Situationen werden an Sie herangetragen, die Sie abweisen müssen? Wo können Sie keine Hilfe anbieten?
Wenn Menschen mit Drogen- oder schwerer Alkoholsucht zu mir kommen, empfehle ich, einen Entzug mit medikamentöser Unterstützung in einer Klinik vorzunehmen, da eine Psychotherapie vorher wirkungslos wäre. Ebenso wenn ich bei einem Patienten eine schwere psychische Krankheit erkenne, die man ohne Medikamente nicht behandeln kann. Wenn allerdings diese Menschen von einem Psychiater gut eingestellt sind, kann Psychotherapie auch bei der Prophylaxe für die nächste Krise sehr hilfreich sein.

Neben Ihrer Arbeit als Psychotherapeutin bieten Sie auch Mediation und Coaching sowie Wirtschafts- und Persönlichkeitstraining an. Was kann man sich darunter vorstellen?
Coaching ist eine Begleitung für Menschen, die im beruflichen Umfeld etwas bearbeiten oder verändern wollen. Mediation ist eine Technik, die zwei oder mehreren Parteien in einem Konflikt hilft, eine außergerichtliche Einigung oder einen Konsens miteinander zu erreichen. Und zusätzlich leite ich Seminare für Firmen und NPOs zu Themen wie „Keine Angst vor Konflikten“ oder „Konstruktiven Umgang mit Kritik“, in denen die Teilnehmer ihre Kommunikationsfähigkeit und ihre Resilienz entwickeln können.

Schließen die unterschiedlichen psychologischen „Schulen“ sich gegenseitig aus? Könnte man Methoden aus der Verhaltenstherapie – auf die Sie sich spezialisiert haben – beispielsweise mit Gestaltpsychologie kombinieren?
Die psychotherapeutischen Schulen sind nicht mehr, so wie früher, scharf voneinander abgegrenzt. Wir haben viel voneinander gelernt, auch wenn verschiedene Schulen manchmal die gleichen Theorien und Techniken anders benennen. Einige Kollegen aus anderen Schulen kommen zu mir in Supervision, weil sie den praktischen Zugang der „kognitiven Verhaltenstherapie“ erlernen wollen. Genau aus dem Grund mache ich auch für mich Fortbildungen in anderen Therapiemethoden. Das erweitert den Horizont und hilft beim Arbeiten. Und schlussendlich müssen alle Therapiemethoden den Patienten helfen, besser mit dem Leben fertigzuwerden.

Inwieweit beeinflusst eine gewisse gegenseitige Sympathie den Erfolg der Therapie?
Eine gegenseitige Sympathie ist für eine Therapie unerlässlich. Viele Studien sagen sogar, dass sie der ausschlaggebende Faktor für den Erfolg der Therapie ist. Da Menschen sich öffnen müssen, brauchen sie auch Vertrauen in den Therapeuten. Es muss möglich sein, neue positive Alternativerfahrungen in einer therapeutischen Beziehung zu machen, daher müssen von beiden Seiten Wohlwollen und Sympathie vorherrschen.

Ihr Balkon blickt auf die denkmalgeschützte Mauer des alten jüdischen Ghettos. Wie geht es Ihnen damit?
Ich bin froh, auf der anderen Seite dieser Mauer zu leben, als es unsere Vorfahren noch getan haben!

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