Gemeinsam für eine bessere Welt

Zwei Jahre arbeiteten drei große rabbinische Organisationen – das Oberrabbinat Israels, die Europäische Rabbinerkonferenz (CER) und der Rabbinical Council of America (RCA) – an der gemeinsamen Erklärung Zwischen Jerusalem und Rom an die katholische Kirche, die als Antwort auf Nostra Aetate, das Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils, zu sehen ist. Übergeben wurde die Erklärung von einer Rabbinerdelegation, der auch der Wiener Oberrabbiner Arie Folger angehörte. Er war Vorsitzender des Nostra Aetate Response Committee. WINA sprach mit ihm über die Schwerpunkte des Papiers und den interreligiösen Dialog. Interview: Alexia Weiss

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Historischer Händedruck Oberrabbiner Arie Folger bei der Papstau­dienz.

Interview mit Arie Folger

WINA: Sie sind diesen Sommer mit dem Papst zusammengetroffen. Wie war Ihr persönlicher Eindruck von dieser Begegnung?
Oberrabbiner Arie Folger: Wir hatten jeder nur eine kurze Zeit mit dem Papst persönlich. Das Offizielle ist natürlich sehr, sehr formell. Aber es war ganz schön zu sehen, wie viele Rabbiner den Papst persönlich kennen – und deshalb auch direkt die Wärme zu spüren war. Ich kannte den Papst, Kardinäle, Bischöfe noch nicht persönlich. Und so war es mir eine Freude, den Menschen, mit denen ich eine Weile E-Mail-Kontakt hatte, persönlich zu begegnen.

Im Rahmen einer Rabbinerdelegation haben Sie dem Papst eine Erklärung übergeben. Was sind die Kernpunkte des Papiers?
❙ Wir betonen sowohl Gemeinsamkeiten als auch Differenzen zwischen dem Judentum und dem Christentum. Die Differenzen sind allerdings unüberbrückbar.

Welche Differenzen sind das?
❙ Für Christen ist die Dreifaltigkeit besonders wichtig. Für Juden ist es unverständlich, wie so etwas im Monotheismus überhaupt passen kann. Für Christen ist Jesus Teil dieser Trinität. Auch als Messias ist er wichtig. Aber: Von einem Messias zu sprechen, der gekommen ist und gegangen ist, und die Welt ist gar nicht besser geworden? Wie viel Leid wir in den letzten zwei Jahrtausenden erlebt haben! Das Messias zu nennen, damit können wir uns nicht zurechtfinden. Und erst gar nicht damit, dass der Messias irgendwie mehr oder direkter als Kind Gottes gilt als irgendeine andere Person auf Erden. Das sind Differenzen, die unüberbrückbar sind.
Auf der anderen Seite: Christen glauben an den Gott, der Himmel und Erde erschaffen und das jüdische Volk in Ägypten befreit und ihm die Thora gegeben hat. Sie betrachten den Tanach als heilige Schrift. Sie betrachten es zwar anders als wir, sie sagen, es gibt ein Altes Testament und ein Neues, während wir ganz klar zur andauernden und unwiderruflichen Gültigkeit der hebräischen Bibel stehen. Wir sind uns also nicht einig, wie diese Schriften zu interpretieren sind, aber dass das Buch überhaupt das Wort Gottes ist, darüber sind wir uns einig. Das sind gemeinsame Punkte. Darauf kann man bauen.

»Wir verlangen von der Kirche mehr Unterstützung bei der Bekämpfung von Antisemitismus, drücken selber unser Mitleid und unsere Sympathie für Christen, die verfolgt werden, aus.«

 

Wie hat der Papst auf die rabbinische Erklärung geantwortet?
❙ Der Papst zitiert eine Stelle aus der Prophezeiung von Jeremiahu, mit der er perfekt den Geist dieses Dokuments und des jüdisch-christlichen Dialogs erfasst. Jeremias warnt die Menschen, Gutes und nichts Böses zu tun, sich für Zukunft und Hoffnung einzusetzen. Damit drückt er aus, dass, wenn sich religiöse Menschen für das Wohl der Gesellschaft auch in weltlichen Dingen einsetzen, das dennoch keine säkulare Sache ist, sondern die Erfüllung der Weisungen der Propheten Israels. Es ist eine religiöse Sache, die aber keiner theologischen Auseinandersetzung bedarf, wo wir sagen, wenn wir etwas Gutes tun, spielt es keine Rolle, ob das in Erfüllung eines jüdischen oder eines christlichen Ideals ist. Das hat der Papst in seiner Rede sehr schön erfasst und zum Ausdruck gebracht.

Der zentrale Punkt der Erklärung ist also: gemeinsame Arbeit zum Wohl der Gesellschaft.
❙ Dazu haben wir auch eine Liste von Themen erstellt.

Was steht auf dieser Liste?
❙ Dass man sich einsetzt für die schwachen Menschen der Gesellschaft, für Toleranz; dass religiöse Gedanken nicht mit Gewalt oder mit Druck, sondern mit Überzeugung verbreitet werden. Wir verlangen von der Kirche auch mehr Unterstützung bei der Bekämpfung von Antisemitismus, drücken selber unser Mitleid und unsere Sympathie für Christen, die verfolgt werden, aus. Gleichzeitig – das ist keine Botschaft an den Papst – haben wir auch an die anderen christlichen Kirchen appelliert, das Vorbild der katholischen Kirche diesbezüglich zu befolgen, die in den vergangenen 50 Jahren auf Basis des Zweiten Vatikanischen Konzils weitgehend den Antisemitismus in den eigenen Reihen bekämpft hat.

Der Kampf gegen den Antisemitismus wird im Dokument besonders stark hervorgehoben.
❙ Ja, weil es eine Erwiderung auf Nostra Aetate ist.

Ist diesbezüglich in der katholischen Kirche nun der Idealzustand erreicht?
❙ Ich glaube nicht an Idealzustände, wenn sie nicht bei Gott sind – wenn sie bei Menschen sind. Denn sobald etwas ein Idealzustand ist, hören wir auf zu wirken. Was ganz klar ist: dass die Kirche es richtig gemeint hat, es war keine Heuchelei. Und die Kirche hat nicht nur dieses Dokument vor 50 Jahren veröffentlicht, sondern in dessen Folge richtige Handlungen durchgeführt, die einen richtigen Effekt haben.

Heißt das, dass es keinen Antisemitismus mehr bei Katholiken gibt?
❙ Nein. Es gibt leider immer noch Katholiken, sogar Geistliche, die antisemitisch eingestellt sind; und es gibt Probleme mit Randgruppierungen. Die katholische Kirche hat einen nicht unwesentlichen Beitrag zur europäischen Kultur geleistet, und dazu gehören gute Dinge und weniger gute Dinge. Und die blutige Geschichte des Antisemitismus, die wir erlitten haben in den vergangenen Jahrhunderten, ist leider auch ein Teil davon.

»Wie ich das sehe, haben wir einen recht guten Dialog mit der katholischen Kirche, mit der evangelischen Kirche, mit einigen führenden Vertretern der muslimischen Gemeinschaft.«

 

Davon zeugt zum Beispiel der Judenplatz.
❙ Ja, aber die Kirche gesteht es ein. Es ging so weit, dass Johannes Paul II. ausdrücklich zugegeben hat, dass die Kirche zwar nicht direkt für den Holocaust Verantwortung trägt – das haben die Nazis gemacht –, der christlich geprägte Antisemitismus aber dennoch in der Vergangenheit dazu beigetragen hat, dass es dazu kommen konnte. Zudem muss ich sagen, dass es auch im Luther-Jahr viele evangelische Kirchen gibt, die das Gleiche vom besonderen protestantischen Erbe gestehen.

Es handelt sich bei dieser rabbinischen Erklärung um ein Dialogpapier zwischen der katholischen Kirche und drei großen rabbinischen Organisationen. Trotzdem gehen Sie auch auf den Islam und vor allem auf den Islamismus ein. Was hat das in so einem Dokument zu suchen?
❙ Die Kirche ist einflussreich. Die Kirche hat einen indirekten Einfluss auf die Weltpolitik. Wir haben uns gefreut, dass Papst Franziskus 2015, wenn auch inoffiziell, anerkannt hat, dass es einen neuen Antisemitismus gibt, der sich als Antizionismus tarnt. Das ist unheimlich wichtig. Übrigens betonen wir, wie es auch im Papier steht, die extremistische, gewaltbereite Version des Islam. Dabei spreche ich nicht nur von jenen Personen, die selbst gewaltbereit sind, sondern auch von jenen, die diese Personen unterstützen. Unter diese Version des Islam leiden hauptsächlich Muslime. Auch ganz fromme Muslime. Es ist nicht so, dass es die orthodoxen gegen die liberalen Muslime sind. Begriffe wie orthodox und liberal passen nicht einmal zu Muslimen, die eine eigene Nomenklatur haben. Muslime, Juden und Christen leiden enorm viel unter dieser extremistischen Ausrichtung. Es ist wichtig, dass man diese Dinge beim Namen nennt und dass man sagt, es ist eine moralische Sache, den Terrorismus zu bekämpfen. Es war uns aber auch wichtig zu betonen, dass sich die Erklärung nicht gegen alle Muslime wendet, sondern allem voran gegen diesen extremistischen Teil.

Man kann sagen, das Papier ist Ausdruck eines Dialogs der Religionen. Mit der katholischen Kirche gibt es ein gutes Einvernehmen. Mit protestantischen Kirchen auch. Wie sieht es insgesamt mit der Zusammenarbeit mit Religionsgemeinschaften aus?
❙ Mit der katholischen Kirche sehr gut. Sobald wir von anderen Religionsgemeinschaften sprechen, bedeutet die Tatsache, dass nur die katholische Kirche einen Papst hat, auch, dass der Dialog mit anderen Religionsgemeinschaften automatisch nicht global, sondern national ist. Wir haben zwar im Judentum keinen Papst, der Oberrabbiner von Israel hat jedoch eine bestimmte repräsentative Funktion. Aber bei vielen Religionsgemeinschaften gibt es keine solche Ebene, da kooperiert man national oder lokal.

Wie sieht der religiöse Dialog in Wien konkret aus?
❙ Wie ich das sehe, haben wir einen recht guten Dialog mit der katholischen Kirche, mit der evangelischen Kirche, mit einigen führenden Vertretern der muslimischen Gemeinschaft. Wir brauchen den Dialog nicht nur, um gegenseitige Vorurteile zu bekämpfen, sondern auch, um die Rechte der religiösen Menschen vor einer aggressiveren säkularen Gemeinschaft zu schützen. Es sind längst nicht mehr ausschließlich die Minderheitsreligionen, die solchen Schutz brauchen. Nehmen Sie zum Beispiel die Haltung der Arbeitgeber zu religiösen Feiertagen. Wenn ein Arzt Leben retten muss, ist das eine Sache. Warum aber muss ein Netzwerkingenieur am Schabbat oder zu Weihnachten arbeiten, nur damit eine Website wieder funktioniert? Hier Verständnis aufzubauen, ist allen Religionen in einer immer säkularer werdenden Gesellschaft ein Anliegen.

Es gibt also gemeinsame Interessen der Religionsgemeinschaften.
❙ Ja. Zum Beispiel, dass es Religionsunterricht an den Schulen gibt. Das ist ja nicht in allen Ländern Europas so, ist aber eine wertvolle Sache und hilft übrigens auch bei der Bekämpfung von Extremismus. Denn der Religionsunterricht findet unter bestimmten Standards des Bildungsministeriums statt und verhindert damit Extremismen im Unterricht. Eigentlich müsste deshalb die säkulare Gesellschaft nicht nur Verständnis zeigen, sondern es schätzen, dass es einen solchen Religionsunterricht gibt. Man wird ja nicht gezwungen mitzumachen, wenn man nicht Mitglied einer Religionsgemeinschaft sind.

Welche Probleme bringt die Säkularisierung noch mit sich?
❙ Die säkulare Bewegung existiert sowohl rechts als links. Auf der einen Seite haben wir Menschen, die Religion als etwas Primitives ansehen und nur auf den Moment warten – und das noch beschleunigen wollen –, an dem alle Menschen Religion aufgeben. Und es gibt die Menschen, die alle Religionen ausschließen und nur die eigene Richtung erhalten wollen, um eine besonders „rassenreine“ oder „naturreine“ Gesellschaft zu haben, das ist die Extreme ganz rechts. Beides ist nicht gut. Die plurale Gesellschaft hat uns bereichert. Im Allgemeinen ist sie für uns alle gut.

Ein Punkt, der immer wieder genannt wird, ist, dass wir in der Geschichte ohne Religionen viele Kriege und viel Gewalt erst gar nicht erlebt hätten. Gerade heute gibt es im Namen des Islam viel Gewalt.
❙ Das stimmt. Es gab historisch alle Arten von Auseinandersetzungen, und es gibt sie auch heute, und die Motive von Menschen sind selten nur eindimensional. Man kann jedoch diesbezüglich nicht von allen Religionen gleich sprechen. Um nur ein Beispiel zu geben: Im Iran-Irak-Krieg haben Juden, Christen, Buddhisten, Hinduisten und alle anderen sich nicht beteiligt. Es war eine rein muslimische Auseinandersetzung. Tragisch und traurig. Diese Spannungen existieren heute weiter. Die blutigsten Kriege wurden jedoch von Atheisten geführt.

Welche Kriege meinen Sie konkret?
❙ Alle großen Konflikte des 20. Jahrhunderts: den Zweiten Weltkrieg, Stalin und seine Gulags, den Japan-China-Krieg. Das waren alles nicht-religiöse Konflikte. Und dennoch waren das die blutigsten. Auch der Erste Weltkrieg, der viele Opfer gefordert hat, war nicht religiös. Es gab und gibt mehr als genug Konflikte, die schrecklich blutig und gar nicht religiös motiviert sind. Religionen haben der Welt aber auch unglaublich viel Gutes gebracht. Man kann es also nicht ganz so vereinfachen. Wir alle aber sind aufgefordert, das Gute im Menschen zu stärken und das Schlechte einzuschränken.

© ikg_archiv

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