Das Kunsthistorische Museum zeigt die erste österreichische Retrospektive des
Malersuperstars Lucian Freud.
Von Thomas Edlinger
Vielleicht ist es sinnlos, nach der Wahrheit eines Menschen zu fragen. Was aber ist die Wirkung eines Menschen? Wenn man dem herausfordernden, malerischen Ausdruck von Lucian Freud glauben will, dann offenbart sich sogar im Blick auf ein nacktes Supermodel wie Kate Moss eine voluminöse, plastische Textur der Haut, die so gar nichts mit der professionellen, aseptischen Straffheit von Modelkörpern und den kosmetischen Nachbesserung von Falten und Poren in ihren medialen Abbildern zu tun hat. Zudem erscheinen, wie so oft bei Freud, die Proportionen verzerrt. Der durchaus entspannt blickende Kopf ist kleiner, das Becken breiter, der Bauch dicker, als man es von den Celebrity-Fotos kennt. Wenn auch nicht so dick wie der schlaffe, massive Bauch von Sue Tilly, einer Mitarbeiterin eines Londoner Arbeitsamtes. Auch Tilly räkelt sich wie Moss auf einem Sofa. Doch ihre Augen sind geschlossen, ihr Gesicht an den Bildrand gedrängt. Der hingegossene, mittige Fleischberg dominiert über die Mimik und konfrontiert den Betrachter mit der trägen Hinfälligkeit des Körpers, seinem entblößten Verfall. Ihr Porträt ist, auch das typisch Freud, in kräftig aufgetragenen Brauntönen gehalten. Es heißt Benefits Supervisor Sleeping und wurde 2008 um über 33 Millionen Dollar an den Milliardär Roman Abramowitsch verkauft – bis heute der höchste Preis, der für ein Werk eines lebenden Künstlers bezahlt wurde.
Auch dieses Werk wird im Rahmen der ersten österreichischen Retrospektive des 2011 im Alter von 88 Jahren verstorbenen Malers im Kunsthistorischen Museum zu sehen sein. Lucian Freud emigrierte im Jahr der Machtübernahme der Nazis 1933 mit seiner Familie nach Großbritannien. 1939 erhielt er die britische Staatsbürgerschaft.
Heute gilt er als einer der gewichtigsten figurativen Maler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Rolle kommt ihm wohl auch deshalb zu, weil Freud, wie sonst aus seiner Generation vielleicht noch Balthus, das mittlerweile vom Publikum verehrte Bild des modernen Künstlers erfüllt: einzelgängerisch, kompromisslos, leidenschaftlich und obsessiv. Seine intensive Freundschaft mit Francis Bacon zeigt sich nicht nur in diversen Porträts seines Kollegen, sondern auch in seiner Faszination für den ästhetischen Wert der Deformation, die wie in der Hochblüte der modernen Kunst ein labiles und fragiles Menschenbild zur Kenntlichkeit zu entstellen versucht.
Die anlässlich seiner aufwühlenden Bilder oft gehörte Frage, ob sich dabei so etwas wie der Wesenskern oder die Seele des porträtierten Gegenübers enthüllt, ist nicht nur unbeantwortbar, sondern führt auch auf die falsche Fährte. Denn es macht gerade die existenzielle Wucht der Malerei Freuds aus, sich nicht auf den Gestus einer entlarvenden und damit eine Bedeutung fixierenden Darstellung reduzieren zu lassen. Die rohe Ungeschminktheit ist nicht Ausdruck der wahren Seele, sondern mehrdeutiges Resultat eines entschiedenen Stilwillens.