„Gute Romane erzählen von Menschen, nicht von Themen“

Michael Köhlmeier ist nicht nur einer der profiliertesten Schriftsteller Österreichs, er erhebt seine Stimme auch gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Gerade ist sein neuer Roman Bruder und Schwester Lenobel erschienen und erzählt die Geschichte eines Geschwisterpaares vor dem Hintergrund der Erlebnisse ihrer jüdischen Eltern während des Nationalsozialismus.

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© apa picturedesk/Georg Hochmuth

WINA: Im Zentrum Ihres neuen Romans steht ein jüdisches Geschwisterpaar aus Wien. Was hat Sie zu diesen Figuren geführt?
Michael Köhlmeier: Hanno Loewy, der Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems, hat sich ein bisschen in die Figur der Jetti Lenobel verliebt, sie kommt ja in meinem Erzählband Nachts um eins am Telefon vor. Er hat irgendwann gesagt: Schreib doch über sie! Er meinte, sie habe viel zu erzählen. Ihr Bruder Robert taucht als Nebenfigur in drei meiner Romane auf. So hat es sich eigentlich ganz organisch ergeben.

Da im Roman ja etliche reale Personen sogar mit Klarnamen genannt werden, ist die Frage naheliegend, ob es für die Lenobels Vorbilder gab.
Nein, gibt es nicht. Über die realen Personen, die im Roman vorkommen, wird ja nichts erzählt. Wenn ich von einer Person erzähle, muss ich ihr zugestehen, dass sie ein literarisches Eigenleben führt. Ich kann sie nicht dauernd korrigieren: He, das hat aber dein Vorbild nicht gemacht! Dann wird sie irgendwann verstummen. Dann lebt sie nicht mehr. Dann wird sie Papier. Das merkt der Leser sofort. Ich habe in anderen Romanen reale historische Figuren auftreten lassen – Churchill und Chaplin zum Beispiel –, aber gerade die Genannten haben sich über ihre Historizität erhoben und sind zu gleichsam mythischen Figuren geworden, das heißt zu Helden, von denen man erzählen darf, auch als Dichter, nicht nur als Historiker.

Sie haben sich, wie man unschwer erkennen kann, intensiv mit der jüdischen Problematik dieser Nachkriegsgeneration, die oft völlig religionsfern aufgewachsen ist, auseinandergesetzt. Wie kam es zu diesem Interesse?
Die Schoah ist nicht nur ein jüdisches Problem, das muss nicht betont werden. Niemand aus meiner Generation, ja, niemand jemals kann sagen, das hat mit mir nichts zu tun. Aber diese Überlegungen waren nicht Ausgangspunkt für den Roman. Ich glaube, ein Roman kann nicht auf einer Idee aufgebaut werden, nicht einmal auf einem Thema. Das ist dann wie Schulfunk. Gute Romane erzählen von Menschen, nicht von Themen. Wenn ich Sie frage: Was ist Ihr Thema, dann würden Sie mich wahrscheinlich, und das mit Recht, merkwürdig ansehen. Ein Mensch hat kein Thema. Und wenn ich einen Menschen auf ein Thema zusammenstutze, dann tu ich ihm Unrecht. Robert und Jetti, Bruder und Schwester Lenobel, sind mir beim Schreiben als Menschen begegnet, und ich bin ihrer Geschichte gefolgt. Das klingt ein bisschen kokett, ich bin es ja, der die Geschichte erfindet, das weiß ich schon, ich bin ja nicht schizophren, aber doch habe ich keine allwaltende Macht über meine Figuren. Es rebelliert schon in mir, wenn ich von „meinen Figuren“ spreche.

»Gerade die Partei, in der sich die übelsten Antisemiten versammelt haben,
nennen sich jetzt Judenfreunde.«
Michael Köhlmeier

Sie haben wohl auch intensiv recherchiert, von der jüdischen Nachkriegsgeschichte bis hin zur aktuellen Lage in Israel. Wie sind Sie da vorgegangen bzw. waren Sie auch in Israel, was sich aus manchen Beschreibungen vermuten ließe?
Auch wenn ich mich jetzt ein bisschen schämen muss: Nein, ich war noch nie in Israel. Aber mein Freund Hanno Loewy ist ein wundervoller Erzähler, und er hat mir viele Abende von Israel, vor allem von Jerusalem erzählt. Recherchiert habe ich intensiv, ja, natürlich, gelesen, Reportagen angeschaut und so weiter. Aber wenn ich am Schreibtisch sitze, nützt die Recherche nur indirekt. Es ist wie beim Trinken. Ohne Glas oder Flasche ist es schwer, Wasser zu trinken, aber wenn Sie nur ein Glas oder eine Flasche haben und kein Wasser, dann wird Ihr Durst nicht gelöscht werden. Glas und Flasche sind die Recherche, das Wasser ist die Einbildungskraft, die Imagination.

Auffallend sind Ihre fundierten Kenntnisse der Psychoanalyse und Ihre ironisch-kritischen Einwände gegen die orthodoxen Freudianer. Sebastian Lukasser, in mancher Hinsicht Ihr Alter Ego, bezeichnet die Seele „als eine Erfindung des Judentums“. Wie ist das zu verstehen, außerhalb der Tatsache, dass Freud Jude war?
Ich glaube, zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wird im Alten Testament eine neurotische Beziehung beschrieben, nämlich die Beziehung zwischen Gott und den Menschen. In der griechischen Mythologie ist Zeus, der oberste der Götter, nicht der, der uns erschaffen hat. Erschaffen hat uns Prometheus, der spielt in der weiteren Geschichte der Menschen keine Rolle mehr, nur am Anfang. Der antike Mensch wusste, Zeus liebt ihn nicht. Zeus beäugt uns misstrauisch. Er tut uns viel Böses an. Er ist nicht unser Vater. Wir erwarten von ihm keine Liebe. Er kann uns nicht enttäuschen. Am besten ist, wir gehen ihm aus dem Weg. Beim biblischen Gott ist das ganz anders. Er hat uns erschaffen, er liebt uns, er hat Erwartungen an uns, wir können diese Erwartungen erfüllen, oder wir enttäuschen ihn. Aber auch wir haben Erwartungen an ihn, auch er enttäuscht uns manchmal. Wir sind Familie. Das Alte Testament ist neben allem anderen, was es ist, auch eine Familienaufstellung. Da liegt der Kern der Neurose. Ohne Seele geht das nicht. Psyche bei den Griechen ist etwas ganz anderes.

Gretchenfrage: Wie halten Sie es mit der Religion?
Ich glaube, der erste Schritt weg von Gott ist die Gründung einer Religion. Dieser Satz ist allein deswegen schon nicht ganz ernst zu nehmen, weil er viel zu gut klingt. Die Frage ist übrigens indiskret.

Welche Relevanz hat dieser Roman nach Ihrer mittlerweile berühmten Rede am Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus bekommen?
Ich war derselbe, als ich den Roman geschrieben habe, und derselbe, als ich die Rede gehalten habe. Aber ich möchte nicht, dass der Autor des Romans den Leser auf eine politische Meinung lupft. Wie Goethe sagt: Man spürt die Absicht und ist verstimmt. Die Rede habe ich als Bürger dieser Republik gehalten.

Sie haben wiederholt davor gewarnt, die FPÖ als judenfreundlich zu sehen. Wo liegen für Sie die Gefahren des plakativen Philosemitismus, wie er in jüngster Zeit gerade von rechts demonstriert wird?
Das ist doch ein Gipfel der Widerwärtigkeit – gerade die Partei, in der sich die übelsten Antisemiten versammelt haben, nennen sich jetzt Judenfreunde, um sich Parolen gegen Muslime zu schmieden. Wie soll man jemanden nennen, der immer einen Sündenbock sucht? Der ist doch ein Schurke.

„Kleine Schritte führen zum Bösen“, haben Sie gesagt. Wie weit sind wir Ihrer Einschätzung nach auf diesem Weg?
Inzwischen trauen sie sich, durchaus schon größere Schritte zu machen. In Afrika Orte militärisch zu besetzen, so eine Ansage ist ein großer Schritt, also wirklich. Und dann die Geschichte mit dem Gudenus und dem Jugendlichen, den er angezeigt hat, um dann zu sagen, es liegt ja bereits eine Anzeige gegen ihn vor, diese Geschichte hätte sich niemand auszudenken getraut, weil man in unserer Demokratie, in unserer Kultur niemandem eine solche Ehrlosigkeit zutrauen möchte.
Johann Gudenus – dieser Name steht für einen ehrlosen Mann!

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