„Ich war immer das Publikum“

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Über Psychoanalyse und Musik, ihre Kindheit und Jugend in Ungarn, Antisemitismus damals und heute und ihren vor zehn Jahren verstorbenen Mann, den Komponisten György Ligeti, den „Gyuri“, sprach Vera Ligeti mit Anita Pollak.

WINA: Sie sind mit ihrem Mann 1956 aus Ungarn nach Österreich geflüchtet, hier eine der bekanntesten Psychoanalytikerinnen geworden und arbeiten immer noch voll. Sie waren die Frau eines der größten Musiker des 20. Jahrhunderts und sind seit genau zehn Jahren seine Witwe. Sind das völlig getrennte Identitäten?

Vera Ligeti: Was die Analyse betrifft, habe ich immer das Gefühl gehabt, dass das Wesentliche das Zuhören ist. Abgesehen davon, dass Analytiker der beste und bequemste Beruf ist, ist er eigentlich nicht zu erlernen, d. h. er hat etwas mit Kunst zu tun. Ich höre genauso zu wie beim Musikhören. Ich finde ja überhaupt, dass Analyse Theater ist, Stegreif-Theater. Der Patient gibt das Thema vor, und dann wird darüber improvisiert wie vielleicht auch in einer Jazzsession. Deshalb glaube ich, dass beides sehr nah beieinander liegt. Musik hat natürlich auch etwas mit dem Unbewussten zu tun. Wenn man will, findet man sehr viele Parallelen. Jeder hat ja viele Identitäten. Als Analytikerin bin ich aber ein Auslaufmodell.

„Dass ich als jüdisches Kind zum Beispiel die Einzige war, die ein bestimmtes Gedicht korrekt wiedergeben konnte, war für die Lehrerin eine Katastrophe.“ Vera Ligeti

Haben Sie auch ein musikalisches Leben?

❙ Nein, ich habe Schweinsohren. Die Musik war immer meine hoffnungslose Liebe, lang bevor ich Gyuri kennengelernt habe. Genießen kann ich Musik sehr. Ich habe als Kind begonnen, Klavier zu spielen, da ist mir dann aber der Hitler zu Hilfe gekommen, denn die Zeiten waren nicht so, dass ich Klavierspielen weiter lernen hätte müssen.

War das kein Problem für Ihre Partnerschaft, dass Sie zum Werk Ihres Mannes keinen Zugang hatten?

❙ Ich habe einen sehr intensiven Zugang, nur keinen kreativen. Ich war immer das Publikum. Der Gyuri und die Kúrtags*, unsere ältesten Freunde, haben in den finstersten Stalin-Zeiten zu dritt Opern gesungen, und das waren meine schönsten Opernaufführungen, obwohl ich seither in vielen großen Opernhäusern war. Der Kúrtag war das Orchester, der Ligeti hat alle Männerpartien gesungen, und die Márta alle Frauenrollen. Ich war das Publikum und habe es ungeheuer genossen. Unter Stalin durfte Ligeti nichts veröffentlichen, und da war meine Rolle sehr wichtig. Ich habe auch viel abgeschrieben, wir haben die Noten zusammengebunden, so gesehen waren es wunderbare Zeiten, und ich habe natürlich auch viel gelernt.

Sie sind als jüdisches Kind in Ungarn aufgewachsen, wie war denn ihre Kindheit, wie jüdisch war ihr Elternhaus?

❙ Mein Vater war Direktor in einer riesigen Firma. Bevor ich in die Schule gekommen bin, hat er mir gesagt, dass ich immer die Beste sein muss, weil wir Juden sind, und wenn ich einmal auf die Universität möchte, hätte ich anders keine Chance, und nur das, was ich im Kopf habe, könne niemand mir wegnehmen, also die übliche jüdische Moralpredigt. Mein Großvater ist Yom Kippur in die Synagoge gegangen, und den Sederabend haben wir bei meinen Großeltern gefeiert, zu Hause war nicht die Rede davon. Ich habe natürlich gewusst, dass wir Juden sind und was das bedeutet, und für uns hat es viel an Verfolgung bedeutet.

„Ich glaube nicht, dass es immer Antisemitismus geben muss, aber dass es immer Verfolgungen geben wird. Die Stimme des Intellekts ist leise, hat Freud gesagt.“

Wie und wo haben Sie den Holocaust erlebt und überlebt?

❙ Schon etwa 1939 war es mit der Sanatoriumsruhe meiner frühen Kindheit vorbei, vor allem weil mein Vater dauernd beim Arbeitsdienst im Internierungslager war. Von seinem Posten war er zwangspensioniert. Es gab Numerus clausus, und ich war die einzige Jüdin in der Klasse, und das war eine merkwürdige Rolle, denn dass zum Beispiel ich als jüdisches Kind die Einzige war, die ein bestimmtes Gedicht korrekt wiedergeben konnte, war für die Lehrerin eine Katastrophe. Ich kann es heute noch! (Zum Beweis rezitiert Vera Ligeti die beiden Strophen.) Aber als ich das erste Mal den Judenstern tragen musste, haben mich meine Schulkolleginnen abgeholt und zur Schule begleitet.

(Vera Ligeti verfügt über ein geniales Gedächtnis. Sie erinnert sich detailiertest an Namen, Orte und Erlebnisse ihrer Kindheit und Jugend.

Traumatisch ist ihr in Erinnerung, wie der Vater mit einem Rucksack abgeführt wurde und sie aus dem Fenster sah, wie er wankte. „Mein Vater, der nie gewankt ist. Weil es das letzte Mal war, dass ich ihn gesehen habe, hat sich retrospektiv dieses Bild so eingeprägt. Dem Großvater gelang es, Vera und ihre Mutter in einem der sogenannten „Schwedenhäuser“ unterzubringen, die Raoul Wallenberg zur Rettung ungarischer Juden bereitgestellt hatte. Von Schikanen und Willkür der Pfeilkreuzler weiß sie zu berichten. Das Überleben verdankt sie einer Reihe von glücklichen Zufällen, aber auch ihrer tapferen, resoluten Mutter, die ihr öfter „zwei Watschen“ gegeben hat, wenn es die Situation erforderte. Ihre geliebte Urgroßmutter, die gehbehindert war, mussten sie in ihrem Wohnhaus zurücklassen. Sie ist allein dort verhungert. Das war für mich das Schrecklichste, weil sie immer für alle gesorgt hat, auch als es fast nichts mehr zu essen gab.“)

Sie haben sich auch aus psychoanalytischer Sicht mit dem Phänomen des Antisemitismus beschäftigt. Wenn Sie aus Ihren Erfahrungen von damals die Gegenwart betrachten, sind Sie da beunruhigt, sehen Sie da Parallelen?

❙ Antisemitismus gibt es nach wie vor, das ist sonnenklar. Die Welt hat sich wahnsinnig verändert, aber der Mensch nicht. Das Aggressionspotenzial ist unverändert. Ich glaube nicht, dass es immer Antisemitismus geben muss, aber dass es immer Verfolgungen geben wird, Gruppen, die die innere Aggression nach außen abführen müssen, das scheint so zu sein. Die Stimme des Intellekts ist leise, hat Freud gesagt. Und wenn man sich heute die Opinion Leader anschaut, etwa den Trump!

Oder Orbán?

❙ Ungarn ist verloren. In den Ländern, die die Sowjetunion kolonisiert hat, blieb unter einer grauen Eisschicht alles erhalten. Ich verstehe ja nicht sehr viel davon. Gyuri hat auch das verstanden, das war ein Kopf! Ich war jetzt in Rumänien, wo man in Ligetis Geburtsort eine Tafel angebracht hat, die ich enthüllen musste. Ich bin jetzt schon eine große Fetzenzieherin, anfänglich habe ich es zu schnell gemacht, jetzt mach’ ich es schon mit Würde. Eine idiotische Tafel voller Fehler übrigens. Ich habe keine depressive Neigung, aber diese brutalen, altmodischen Gesichter aus meiner Kindheit, die ich dort gesehen habe, und ihre Ideen, zum Beispiel über die Mig­ranten, das war zum Verzweifeln.

Sie haben sich nach 1956 mit unbegleiteten jugendlichen Flüchtlingen aus Ungarn befasst, wissenschaftlich und therapeutisch. Haben Sie da ein Dé­jà-vu, was die heutigen Prob­leme betrifft bzw. sind diese vergleichbar?

❙ Ich kenne die jetzigen zu wenig oder gar nicht. Es ist aber sicher ganz anders, mit einem Handy zu flüchten. Die sprechen jeden Tag mit ihrer Mama und können sich informieren, wir hatten nur die Flüsterpropaganda. Wir haben als Flüchtlinge gewusst, dass wir nie zurück können, wir waren ja zum Tode verurteilt, wurden erst 1964 amnestiert und durften keine Kontakte haben. Für uns war es hier so unfassbar anders, als wären wir Muslime gewesen, sozialisiert im Kommunismus. Wir dachten vorerst nicht daran, in einem deutschsprachigen Land zu bleiben. Gyuri, der einen kleinen Bruder im Holocaust verloren hat, hat bis zum letzten Moment nicht verziehen. Lauter winzige Zufälle haben aber ergeben, dass wir hier geblieben sind. Die sozialdemokratischen Zeiten hier in Österreich waren die besten aller Zeiten, seither hat es sich verschlechtert.

Hat Ligeti sich hier in Wien zu Hause gefühlt?

❙ Hier, in diesem Haus schon, sonst nicht. Es ist ja auch heute so, dass er hier so gut wie nie gespielt wird, obwohl er fast täglich auf der ganzen Welt gespielt wird. Wir kannten auch niemanden, keine Österreicher. Ich kenne nur einen kleinen Kreis von professionellen Leuten. Er hat nur ein paar Musiker gekannt, aber auch kein Bedürfnis nach mehr gehabt.

Wie hat man seinen zehnten Todestag am 12. Juni wahrgenommen?

❙ Man hat in Wien endlich doch ein Konzert veranstaltet, besser gesagt ein halbes und noch ein Zehntel, und das ist fast untergegangen. Am 11. Juni, Erew Jontef! Diese jiddischen Ausdrücke habe ich alle erst in Wien gelernt, in Budapest gab es das nicht. Im zweiten Teil haben sie die Chuzpe gehabt, das Heldenleben von Richard Strauss zu spielen. Das passt überhaupt nicht zu Gyuri. In New York hat man jetzt drei Konzerte gespielt und in England und Paris in diesem Jahr viel mehr als hier. Pierre-Laurent Aimard hat dem Konzerthaus angeboten, alle Etüden von Ligeti aus diesem Anlass zu spielen. Das ist ein wunderbares Werk, aber man hat es abgelehnt. Das kränkt mich aber nicht. Er war mit seinem Erfolg zufrieden und hat natürlich alle möglichen Auszeichnungen bekommen. Ligeti ist heute ohne Zweifel ein Klassiker.

Ist er in Ungarn geehrt worden?

❙ Nein, dort ist er der Verräter, der es leicht gehabt hat. Das offizielle Musikleben hat ihn tot geschwiegen. Der Sohn der Heimat hat einmal im Fernsehen gesagt, dass er ein rumänischer Jude ist, und damit war es aus.

Zurück zur Psychoanalyse. Sie gelten als orthodoxe Freudia­nerin, stimmt das?

❙ Ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Aber ich finde, was Freud, natürlich mit vielen Irrtümern, gemacht hat, ist großartig, genial und noch immer das am besten brauchbare Modell des Menschen. Es hat wunderbarerweise das Denken verändert, in der Kunst und im Allgemeinen, und das hat er wirklich allein gemacht. Natürlich hat es auch mit seinem Judentum zu tun und der Tradition des talmudischen Denkens.

* György Kúrtag, ungarischer Komponist

Vera Ligeti, 1930 in Budapest als Veronika Spitz geboren, studierte an der Budapester Universität und nach ihrer Flucht nach Österreich 1956 in Wien Psychologie. Promotion 1958. Sie arbeitete an der Child Guidance Clinic in Wien, ist u. a. Lehranalytikerin der Psychoanalytischen Vereinigung und hat mit Elisabeth Brainin und Samy Teicher das Buch Antisemitismus publiziert. Sie war seit 1957 mit György Ligeti verheiratet. Ihr gemeinsamer Sohn Lukas ist Komponist.

Bild: © Konard Holzer

1 KOMMENTAR

  1. Ich habe Fr. Ligetis Mutter, Fr. Jolanta Spitz, in ihrem Alter viele Jahre (mehr oder weniger gut) betreut.

    Habe auf diese Art auch sie (und leider weitaus weniger gut) auch ihren Gatten kennengelernt.
    Fr. Ligeti und die Gedanken und Einstellungen, die sie hat, haben meine Ansichten über die Welt und die Art, wie ich denke, vollkommen transformiert, wofür ich ihr auch heute, nach dreißig Jahren, dankbar bin.

    Eine blitzgescheite, hochgebildete Frau, und leider, leider wirklich ein „Auslaufmodell“. Habe von diesem Format niemanden mehr näher kennengelernt.

    Außerdem schulde ich ihr noch was. Ich muss einmal bei ihr vorbeischauen, wenn ich aus dem fernen Vorarlberg wieder nach Wien auf Besuch komme.

    In diesem Sinne: Vigyázz magadra, Veronkám. 🙂

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