„Ich würde gerne Rabbiner werden“

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Claus Canisius hat sich seinen Herzenswunsch noch nicht erfüllt. Aber da er eigentlich vor hat, 100 Jahre alt zu werden, steht seinem Vorhaben nichts im Wege. Von Manja Altenburg   

Der bekannte Wissenschaftler erfüllt ganz und gar nicht das Klischee vom im Elfenbeinturm sitzenden Forscher. Er ist lebensnah und aufgeweckt. Vor allem besitzt er eine große Portion jüdischen Witz und Selbstironie. In seinem hellen Arbeitszimmer, in dem er einen gastfreundlich mit Tee und Keksen bewirtet, befinden sich nicht nur viele Bücher, sondern auch mehrere Geigen und ein „Steinway“-Konzertflügel. Kaum verwunderlich, denn der promovierte Musikwissenschaftler lehrte nicht nur an der Universität Heidelberg Englisch und Literatur, sondern arbeitete als Lehrer für Klavier, Theorie und Orchester am Badischem Konservatorium und war als Redakteur von klassischer und zeitgenössischer Musik beim Südwestfunk und dem Süddeutschen Rundfunk (SWR) tätig. Außerdem schloss er ein Analyse und das Dirigierstudium bei Pierre Boulez ab. Stillstand ist ihm ein Fremdwort. „Ich habe viel Glück gehabt, nie musste ich mich auf eine Stelle bewerben, immer kam im rechten Moment ein Protegé. “ Ein wahres Sonntagskind. Doch nicht alles in seinem Leben wird von dieser Leichtigkeit begleitet.

„Ich habe viel Glück gehabt, immer kam im rechten Moment ein Protegé.“


Schutzengel
Hoch zu Ross: als etwa  Siebenjähriger vor dem  Wesergebirge bei Hessisch  Oldendorf in der Nähe von Hameln.
Hoch zu Ross: als etwa Siebenjähriger vor dem Wesergebirge bei Hessisch Oldendorf in der Nähe von Hameln.

Geboren 1934 als der Jüngere von zwei Brüdern in Kolberg und aufgewachsen in Minden, wird er im Alter von sechs Jahren während der Schoah auf dem Land in der Nähe von Hameln versteckt. Seine Mutter entkommt zwei Mal der Deportation. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Schutzengel die Familie begleiten. Denn als der kleine Junge die Jahre der Einsamkeit und Verrohung im Versteck nicht mehr erträgt, flieht er auf eigene Faust und kommt unbeschadet bei seinem Elternhaus an. Diese Zeit hat fraglos Narben in seiner Seele hinterlassen. Außer der Großmutter mütterlicherseits überlebt die Familie die Schoah. Als der Krieg zu Ende ist, wohnen vorübergehend viele Verwandte, die etliche Konzentrationslager überlebt haben, bei Canisius. Der 11-Jährige lauscht ihren Schauergeschichten über den Lageralltag. Vergessen kann er sie nie wieder.

Ich bin ein Marrane

Die Mutter erzieht ihre Kinder katholisch. Obwohl Claus Canisius ein ausgeprägtes jüdisches Bewusstsein hat, leidet er unter der Ambivalenz des Gefühls, Jude und Katholik zu sein, und sagt von sich: „Ich bin ein Marrane!“ [Marranen waren spanische Juden, die im Spätmittelalter unter Zwang zum Christentum bekehrt wurden; Anm. d. Red.] „Der Marrane ist ein Katholik ohne Glauben und ein Jude ohne Wissen, doch Jude im Willen.“ Würde dieses Zitat nicht von dem Philosophen Carl Gebhardt (1922) stammen, könnte es aus Claus Cansius Mund sein.

Meilensteine jüdischer Identität

05_01Immer wieder gibt es so etwas wie Meilensteine in seiner Biografie, durch die seine jüdische Identität Stärkung erhält. Wie in England während seines Studiums als DAAD-Stipendiat an der Royal Academy of Music. Er schließt in London Freundschaften mit Juden, die ihn mit zu G-ttesdiensten in die Synagoge nehmen. Er fühlt sich wohl. „England war ohnehin die beste Zeit meines Lebens.“ Oder als er das erste Mal nach Israel reist, beruflich, das war sein persönliches Mantra, um das Land erstmals zu betreten. Bei einem Vortrag an der Hebrew University fragt er seinen Nebenmann flüsternd, ob die Referentin jüdisch sei. Lachend entgegnet er ihm: „We are all Jewish here!“ [„Wir sind alle jüdisch hier!“ Anm. d. Red.] Eine neue Erfahrung für den Dozenten, der im Land der Täter lebt und täglich mit Altnazis konfrontiert ist.

Seine Mutter folgt seiner Aufforderung, als sie langsam von dieser Welt Abschied nimmt, ihre Lebensgeschichte niederzuschreiben. Nicht ein Mal erscheint das Wort „jüdisch“ in ihrem Manuskript. Claus Canisius, der gerade seine Familiengeschichte veröffentlicht und darüber Vorträge hält, hat ein anderes Sendungsbewusstsein. „Wenn ich etwas niederschreibe, dann will ich es unter die Leute bringen!“ Die Mutter hinterlässt ihm zwei Kidduschbecher, die heute in einer Wandvitrine in seinem Arbeitszimmer stehen. Sie sind der wichtigste und wohl augenfälligste Meilenstein auf dem Weg der Findung seiner jüdischen Identität. Er lässt die Gravuren auf den Bechern transkribieren, nimmt Kontakt zu jüdischen Wissenschaftlern auf und an zahlreichen Schabbatot teil. Er erforscht nun gründlich seine Familiengeschichte. Als Musikwissenschaftler kennt er sich sehr gut in der Bibel aus. Er diskutiert mit Rabbinern und jüdischen Gelehrten über die Thora und andere Themen. Die Ergebnisse und das neu erworbene Wissen nimmt er wissbegierig auf und erweitert damit seine Seele.

Keine Starallüren

Seine Frau Dorothea, die er seit seinem 17. Lebensjahr kennt, unterstützt ihn auf seinem Weg. Wie ihr Mann ist sie eine starke und beeindruckende Persönlichkeit – und ebenso attraktiv. Ehrlich, authentisch und dennoch bescheiden. Starallüren sind beiden ein Fremdwort. Dazu passt auch die Leidenschaft des Wissenschaftlers: Bis auf Unterbrechungen züchtet er seit seinem sechsten Lebensjahr Hühner. Spät rückt Claus Canisius damit raus, dass er ein langjähriger Freund von Hans-Georg Gadamer war. Erst auf Nachfragen erfährt man, dass er Interviews mit bekannten Größen wie Yehudi Menuhin und Ignatz Bubis führte. Claus Canisius muss sich damit nicht schmücken. Er ist sich selbst treu und aufrichtig – gnadenlos sich selbst gegenüber, was besonders schmerzhaft auffällt, wenn er vom Leidensdruck seines Marranentums berichtet. „Ich lebte und lebe noch unter dem Zwang, etwas leben zu müssen, was mir aufgezwungen wurde.“ Seit zwei Jahren belegt Claus Canisius einen Hebräischkurs. Sein Traum, Rabbiner zu werden, schwebt dabei immer mit. Einen Auftrieb erhält vor Kurzem sein jüdisches Bewusstsein durch seine israelische Hebräischlehrerin, für die feststeht, dass „Claus ganz eindeutig Jude ist!“ Lachend stellt er fest: „Das Judentum kann man eben nicht einfach ablegen!“ Vielleicht ist das Rabbinerseminar doch nicht mehr so fern, wie er denkt. ◗

Claus Canisius, 1934 in Kolberg geboren, studiert an der Staatlichen Hochschule für Musik in Karlsruhe, als Stipendiat der Royal Academy of Music in London sowie Musik, Musikwissenschaft, Anglistik und Psychologie in Heidelberg. Es folgt ein Analyse- und Dirigierstudium bei Pierre Boulez. Er lehrt an der Universität Heidelberg Englisch und Literatur, arbeitet als Lehrer für Klavier, Theorie und Orchester am Badischen Konservatorium und ist als Redakteur klassischer und zeitgenössischer Musik beim Südwestfunk und dem Süddeutschen Rundfunk tätig. Claus Canisius hat zwei Kinder und lebt mit seiner Frau in Hirschberg-Leutershausen.

1 KOMMENTAR

  1. Lieber Herr Professor Canisus! Wir haben uns in Taormina vor vielen Jahren kennen gelernt und ich kann mich noch sehr gut an Sie erinnern. Sie haben mir Ihr Buch geschenkt und lustige Anekdoten vom Wiener Zentral Friedhof erzählt. Heute habe ich Sie im Smartphone „entdeckt“ und mich sehr gefreut. Ich möchte Ihnen alles erdenklich Gute wünschen. Herzliche Grüße Helga Kofler

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