Identität mit Lücken

Mit seinem Blog Rotte rennt setzt Thomas Rottenberg bei seiner Textarbeit seit Jahren eher auf Lifestyliges. Viel emotionaler dagegen fiel dieses Jahr an jenem Tag, an dem sein Vater 100 Jahre alt geworden wäre, einer seiner Facebook-Einträge aus, illustriert mit einem Foto des Grabsteins am 4. Tor. WINA sprach mit dem Journalisten über seine jüdischen Wurzeln, die er nie wirklich für sich rekonstruieren konnte.

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© Daniel Shaked

Wenn Thomas Rottenberg von seinem Vater erzählt, schwingt sehr viel Achtung und sehr viel Liebe mit. Aber auch Wehmut. Wehmut über die Gespräche, die er schlussendlich doch nicht mit ihm geführt hat. Die für ihn persönlich wichtig gewesen wären, den Vater aber leiden hätten lassen. Die Gespräche, die Lücken schließen, aber doch nichts mehr wirklich verändern hätten können.
Max Rottenberg wurde 1917 geboren, wuchs in Wien auf und verließ Österreich 1938 in Richtung Frankreich. Glück im Unglück: Er war damals schon politisch sehr aktiv, und so ließ ihn ein Schulkollege wissen: „Dich holen wir als Ersten“, erzählt der Sohn heute. Der Ernst der Lage war somit klar abgesteckt. Max Rottenberg emigrierte rechtzeitig, gelangte schließlich nach Palästina (im Gegensatz zu seiner Mutter, die im Holocaust ermordet wurde). Er meldete sich später bei der britischen Armee, nahm am Afrika-Feldzug teil, gelangte wieder nach Europa. Nach Kriegsende kam er in seine Heimat Österreich zurück.
Viel hat der Vater seinen Kindern – Thomas ist ein Sohn aus der zweiten Ehe, er hat einen Bruder sowie zwei wesentlich ältere Halbgeschwister und diese wiederum eine weitere Halbschwester aus der ersten Verbindung der Mutter in deren Emigration in Großbritannien – nicht über diese schlimmen Jahre erzählt. Er kam zurück, wurde Lehrer, fühlte sich der Sozialdemokratie verbunden und setzte sich für die Chancengleichheit von Kindern ein. Viele Jahre leitete er die Gesamtschule in der Wendstattgasse. Die Familie lebte in einer Reihen­haussiedlung im zehnten Bezirk, eine Siedlung, die allerdings erst kurz vor der NS-Zeit fertiggestellt worden war und in der bis in seine Jugend hinein – Thomas Rottenberg kam 1969 zur Welt – „nur Ehemalige wohnten“. „Er hatte da eine gewisse Abgeklärtheit und hat das alles einfach ignoriert.“

»Warum bist du mit uns in den fucking zehnten Bezirk gezogen, in eine Nazi-Siedlung, und ich muss peu à peu als Jugendlicher draufkommen, was Pessach ist?«
Thomas Rottenberg

Religion war bei den Rottenbergs nicht wirklich Thema. Der Vater hatte seinen Glauben mit der Schoah verloren. Das habe er zwar nie explizit so gesagt, „aber das habe ich gespürt“, sagt sein Sohn, den die Eltern evangelisch taufen ließen (im Gegensatz zum jüngeren Bruder, der ohne Bekenntnis blieb). Die Mutter stammte aus einer Familie, die ideologisch ganz woanders stand: Der Großvater, ein Nervenarzt, habe noch 1946 an den Endsieg geglaubt. Sowohl die Mutter als auch alle anderen Kinder hätten sich von all dem allerdings klar distanziert. Die Mutter habe sich zudem immer und bis heute sozial engagiert, sei als Volksschullehrerin etwa in der Betreuung von psychisch kranken Kindern in einem Spital zuständig gewesen und habe später die Leitung der jüdischen Schule in der Seitenstettengasse übernommen.
Das war auch der Punkt, an dem der Sohn zunehmend realisierte, was es bedeutete, dass der Vater jüdisch war. Thomas Rottenberg war damals etwa zwölf, dreizehn Jahre alt, und obwohl er wusste, dass der Vater flüchten hatte müssen, dass die Großmutter von den Nazis umgebracht worden war, dass es Verwandte in Israel gab, hatte er dieses jüdisch sein nie wirklich mit sich verbunden.

© Daniel Shaked

Später dann, als die Schwester einer damaligen Freundin zum Judentum konvertierte und in eine jüdische Familie einheiratete, realisierte er nach und nach, was ihm an Wurzeln vorenthalten wurde. Da sah er seinen Vater, wie er bei einer Pessach-Einladung aus der Haggada las und es plötzlich so selbstverständlich wirkte. So stimmig. „Auf einmal habe ich gemerkt, er ist aufgeblüht.“ Zu Hause wurde, vor allem, als die Mutter begonnen hatte, in der jüdischen Schule zu arbeiten, das eine oder andere Fest gefeiert, „aber nie mit viel impact. Wir haben halt aus Weihnachten Weihnukka gemacht.“ An dem Pessach-Abend, als Rottenberg schon längst erwachsen war, sah er, was hätte sein können, aber eben nicht war.
Äußerst wertschätzend spricht Rottenberg über das pädagogische Engagement seines Vaters. „Er wollte vermitteln, dass es Chancen gibt, unabhängig vom sozialen Hintergrund. Dass du, auch wenn du nicht gut rechnen kannst, vielleicht gut zeichnen kannst. Dass Kinder gefördert gehören, sowohl in ihren Fähigkeiten als auch in ihren Defiziten. Deshalb hat er die Gesamtschule gefördert. Er stand auf der richtigen Seite. Er war ein Sozialdemokrat bis in die Wolle, versuchte, offen zu sein, er war ein Lehrer, wie er im Buche steht. Es ging ihm um die Menschen, und er meinte, je jünger sie sind, desto eher kann man ansetzen.“
Politik sei zu Hause omnipräsent, aber kein wirkliches Gesprächsthema gewesen. „Mein Vater hat sein ganzes Leben die SPÖ gewählt, um die FPÖ zu verhindern. Ganz schlimm war die Waldheimzeit. Mein Vater hat nicht wirklich etwas über die NS-Zeit erzählt. Man hat nur gemerkt, es trifft ihn.“
Thomas Rottenberg ging und geht es ab, dass er mit seinem Vater nie wirklich über das Unaussprechliche geredet hat. Als er dann als bereits Erwachsener das Gespräch suchen wollte, rieten im Verwandte in Israel ab. „Sie meinten, jetzt, wo dein Vater über 80 ist, da ist es nicht mehr sinnvoll, das anzusprechen.“ Rottenberg folgte der Empfehlung. „Es hätte ihm nur weh getan. Mein Vater hat sich immer bemüht, und dann kommt sein Sohn und macht ihm Vorwürfe? Ja, ich hätte es nett machen können, aber er hätte es dennoch als Frontalangriff auf seine Erziehung verstanden.“

Was aber wäre der Angriff gewesen? „Warum hast du uns das alles vorenthalten? Warum bist du mit uns in den fucking zehnten Bezirk gezogen, in eine Nazi-Siedlung, und ich muss peu à peu als Jugendlicher draufkommen, was Pessach ist? Alles, was mit Geschichte, mit Wurzeln, mit Religion zu tun hat: Da ist von ihm nichts gekommen. Andere waren in der Gemeinde, ich habe von dem nichts mitbekommen. Aber kann ich ihm das vorwerfen? Die Distanzierung war seine Entscheidung. Und er war ein guter Vater und hat die richtigen Werte vertreten.“
Später, als Thomas Rottenberg dann über die Schwester der Exfreundin, aber auch in seiner Tätigkeit als Journalist für den ORF, bei profil, Falter, Standard auf Menschen stieß, die in der jüdischen Community groß geworden waren – „und die mit mir nichts anfangen konnten, weil wir eine andere Jugend hatten. Ich war eben nicht beim Schomer“ –, bedauerte er das schon. Er hätte sich in dieser Gesellschaft wohl gefühlt, ist Rottenberg heute überzeugt. Er wolle nicht hadern, denn sein Leben sei dennoch super verlaufen – aber eben anders, als wenn er wirklich im Bewusstsein seiner jüdischen Wurzeln groß geworden wäre.
Seitdem er die politische Berichterstattung ad acta gelegt und sich dem Lifestyle zugewandt habe, sei es leichter, das Thema beiseitezuschieben, räumt er aber ein. Konnte er die Lücken, die sich durch das Nichterzählen des Vaters ergaben, inzwischen füllen? „Es ist eine Lücke mit riesengroßen Punkten. Eine riesengroße Lücke. Ich habe sie immer noch nicht aufgefüllt.“

Wurzeln, die keine sind. Noch ist Rottenberg selbst nicht Vater, sollte er es aber noch werden, werde er anders mit dem Thema umgehen. „Ich muss aber auch sagen, dass mein Leidensdruck sicher um einiges geringer ist, als es der meines Vaters war. Ich würde über unsere Wurzeln sprechen, aber gleichzeitig klar sagen, dass wir nicht dazugehören.“ Und dann sagt er noch einen fast schon poetischen Satz: „Ich bin stolz auf die Wurzeln, die ich nicht habe.“
Was Thomas Rottenberg sicher weiß, ist, wo er zu stehen hat, wenn es um Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus geht. Auf Facebook sei er immer wieder mit braunen Rülpsern, mit Hasspostings konfrontiert. Und dann gibt es noch die Begebenheiten im Alltag, bei denen es einzugreifen gelte. Dann etwa, wenn er mit ansehe, wie eine Dame eine verschleierte Muslima anremple. Er stellte die Frau zur Rede und hörte, wie sie es abstritt, betonte, sie sei Akademikerin. „Und die verschleierte Frau hat den Kopf eingezogen, nichts gesagt und ist weitergegangen.“ Sie weiß aber, da war jemand, der hat sich auf ihre Seite gestellt. Max Rottenberg hat seinem Sohn vielleicht nicht viel Jüdischkeit mitgegeben – aber Anstand und die richtigen Werte.

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