Die imaginäre „Jüdin“ des Fernen Ostens – Birobidschan

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Die Suche nach der Utopie Stalins von einem fernöstlichen Jerusalem am Amur. Fotos & Text: Alexandre Sladkevich

Etwa 130 km von der Volksrepublik China und knapp über 8.000 km von Moskau entfernt befindet sich eine Stadt, die sich auf den ersten Blick kaum von den hunderten anderen Provinzstädten Russlands unterscheidet – und doch umgibt sie eine mytische Aura. „Birobidschan ist perfekt für Rentner. Die Stadt ist klein, gemütlich, ruhig, sauber und sehr grün“, erzählt Natalja Kljujewa, „es lohnt sich in jedem Fall, sich dort umzuschauen und zu entspannen.“ Über der zweigeschossigen Brücke von Chabarowsk, dem „Wunder des Amurs“, überquert man im unteren Teil den Strom mit der Transsib, darüber mit dem Auto und landet in der jüdischen autonomen Oblast, im Föderationskreis Ferner Osten.

„Stalins Utopie von einem fernöstlichen Jerusalem wurde zu einem Etikett, das einst wie jetzt kaum etwas beinhaltet.“

Bahnhof mit der Aufschrift in Jiddisch und Russisch.
Bahnhof mit der Aufschrift in Jiddisch und Russisch.

Auf dem Weg nach Birobidschan, die Hauptstadt der mittlerweile einzigen autonomen Oblast Russlands, passiert man auch das Dorf Wolotschajewka-1 im Rajon Smidowitsch. Dieses wurde nach Pjotr Smidowitsch, einem der Väter der jüdischen Autonomie, benannt. Das Dorf sieht zum Teil so aus, als ob erst gestern ein Krieg zu Ende ging: Bauruinen, Müll, streunende Hunde und einige wenige, anscheinend ziellos umherwandernde Männer, die den Dreck und die riesigen Pfützen auf den Straßen, die nicht wirklich diesen Namen verdient haben, mühevoll durchqueren. Es gilt: „Keine Straßen, nur die Richtungen“, wie man in Russland zu sagen pflegen. An der Bushaltestelle sitzt eine Frau, die selbstgemachte Piroggen und Tee verkauft. 76 km weiter gelangt man in die Stadt Birobidschan, die in der Umgangssprache auch als Namensgeber für die Region gilt.

Um die Stadt Birobidschan zu erkunden, benötigt man nur wenige Stunden. Die Visitenkarte der Stadt ist der Platz vor dem rötlichem Bahnhofsgebäude mit der Aufschrift „Birobidschan“ auf Jiddisch und Russisch. Vor dem Haupteingang steht ein Brunnen mit einer fast zehn Meter hohen Menora. Unweit entfernt steht ein Denkmal für die ersten Siedler: ein Pferdewagen, auf dessen Ladefläche ein Ehepaar mit einem Sack und einem Samowar sitzt. Im Zentrum der Stadt, mit einem Markt und großem Einkaufszentrum, sucht man erfolgslos nach Matze und koscherem Essen, findet jedoch gleich ein Kriegsdenkmal mit ewiger Flamme: 11.000 Birobidschaner kämpften an den Fronten des Zweiten Weltkrieges, 7.000 davon kehrten nicht zurück. Darunter auch Iosif Bumagin, der sich auf die Schießscharte eines Bunkers warf, um den Rotarmisten den Angriff auf die deutsche Stellung zu ermöglichen. Eine Straße, eine Grünanlage, ein Denkmal und zwei Gedenktafeln erinnern an ihn.

Die „Jüdin“

Die Bewohner der Stadt sind freundlich und scherzen gerne, ihre Freundlichkeit ist angesichts ihrer wirtschaftlichen Lage erstaunlich. Auf einer Bank auf der Scholem-Alej­chem-Straße, die als Hauptstraße gilt, langweilen sich Polizisten, kaum die Passanten anblickend. Mit einem Block und einem Stift bewaffnet und in Bronze gegossen beobachtet sie der jiddischsprachige Schriftsteller Scholem Alejchem.

Scholem Alejchem wacht über die Hauptstraße von Birobidschan.
Scholem Alejchem wacht über die Hauptstraße von Birobidschan.

Eine Frau, die in Richtung einer der drei christlichen Kirchen der Stadt geht, erzählt: „Sehr viele Juden sind fort …“, sie stoppt und fährt fort: „Aber es gibt noch welche …“, legt eine Pause ein und fügt unsicher hinzu: „Sogar viele …“ Die wenigen Passanten sehen slawisch aus. Alle sind sie sich einig: „Man soll Birobidschan im Sommer besuchen, dann ist es wirklich schön!“ Und sie bezeichnen ihre Heimat liebevoll und ein wenig ironisch als „Jüdin“.

Noch existieren die jüdische Theatertruppe Kohelet, die jüdische Kindertanztruppe Maseltov und das jüdische Kinderensemble Ilanot. Ihre Aufführungen sind jedoch nicht mehr nur jüdisch. Die Zeitung Birobidschaner Stern, die älteste in der Region, berichtet nur noch wenig auf Jiddisch (einst die Erstsprache in der Region). Die Sprache der Gründer wird nur noch vereinzelt unterrichtet, fast alle Muttersprachler sind mittlerweile verstorben. Ein internationales jüdisches Kunst- und Kulturfestival ist einer der letzten Reminiszenzen.

Gemeindehaus
Gemeindehaus ‚Freud‘

Es gibt eine kleine Skulptur eines jüdischen Violinisten hier und Aufschriften und Infotafeln auf Jiddisch da, wie beispielsweise auf dem Postamt oder auf der Gedenktafel der Dichterin Ljubow Wasserman. Das Herz der jüdischen Gemeinde bilden die neu erbaute Synagoge und das Gemeindehaus „Freud“. Sie stehen gemeinsam auf einem Gelände hinter einem schwarzen Metallzaun. Auf dem Gelände befindet sich auch ein kleines einfaches Holocaust-Denkmal. Vor dem Zaun noch auf der Straße bläst ein Rabbiner einen Schofar.

All diese Bemühungen wirken künstlich und ein wenig unbeholfen. Als ob man den Namen der Region zu rechtfertigen versucht – auch wenn in dem einen oder anderen Bezirk Moskaus mehr Juden leben als hier; auch wenn die Begegnung dort meist weit weniger exotisch und charmant ist.

Stalins Utopie von der Perle am Amur – einem fernöstlichen Jerusalem, wurde zu einem Etikett, das einst wie jetzt kaum etwas beinhaltet. Auf dem Bahnhof kauft ein alter Mann sich eine Fahrkarte. Seine ukrainisch-jiddische Aussprache ist unerwartet und wirkt befremdlich. Er diskutiert lange, und es entsteht der Eindruck, als ob der Ticketverkäufer den letzten Volksvertreter nicht abfahren lassen wolle. ◗

Zur Geschichte dieser Region:
Die Besiedlung der Region im Osten Russlands begann 1928; der Distrikt wurde 1930 eingerichtet, 1934 wurde ihm der Status einer „jüdischen autonomen Region“ verliehen. Die Beweggründe für die Errichtung waren vielfältig: Die Sicherung der Staatsgrenze zu China; die Kultivierung des Landes, um Industrialisierung und Landwirtschaft zu beschleunigen; die Ausbeutung von Rohstoffen; die Bekehrung der russischen Juden zu wahren Sozialisten und die Beseitigung der Armut und Arbeitslosigkeit in der jüdischen Bevölkerung; das Aufhalten des „westlichen“ Zionismus (bereits in den ersten drei Auswanderungswellen nach Palästina zwischen 1882 und 1924 wanderten über 50.000 Juden aus Russland/der Sowjetunion aus) und nicht zuletzt die Beseitigung des Antisemitismus im europäischen Teil der UdSSR und damit die Verbesserung der Verhältnisse mit dem Westen.

Doch das Vorhaben, ein sowjetisches gelobtes Land mit Jiddisch als Amtssprache zu erschaffen, scheiterte. Zwar zogen tausende Juden der Sowjetunion und auch aus dem Ausland in das Gebiet, aber die meisten verließen das Land schon nach kurzer Zeit, meist desillusioniert durch die schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Zeit ihres Bestehens lag der Anteil der jüdischen Bevölkerung meist unter zehn Prozent. Am Ende der Sowjet­zeit lebten in der Region etwa 9.000 Juden, das waren etwa 0,6 Prozent aller Juden des Landes. Durch die Auswanderung in der postsowjetischen Ära verschwand die jüdische Bevölkerung in diesem Gebiet beinahe vollkommen.

2013 unterzeichnete Dmitrij Medwedew einen kontroversen Erlass, der die freiwillige Rücksiedlung ehemaliger Bewohner aus dem Ausland in die russische Föderation unterstützen soll. Es wurden finanzielle Anreize versprochen, um die Juden zurückzulocken. Aber der Anteil der Titularnation bleibt winzig, und so wird die Idee forciert, die mit dem Leninorden und dem Orden der Völkerfreundschaft ausgezeichnete eigenständige Verwaltungseinheit mit der Region Chabarowsk und der Oblast Amur zu vereinigen.

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