Israel ist kein Land, das man einfach so verlässt

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Der jüngste Berlin-Hype hat in den Medien viel Beachtung gefunden, weil er einen empfindlichen Nerv getroffen hat. Es wandern aber nicht gleich alle aus, die darüber reden. Von Gisela Dachs

Es waren nicht viele, vielleicht ein bisschen mehr als hundert, die zu dem Treffen auf dem Rabin-Platz gekommen waren. Aber dass es stattgefunden hat, barg eine geballte Symbolkraft. Wann haben Israelis je dazu aufgerufen auszuwandern – und noch dazu ausgerechnet nach Berlin!

Israel ist schließlich kein Land, das man einfach so verlässt. Auswanderer werden zwar schon lange nicht mehr pauschal als Verräter verunglimpft, das Bedürfnis aber, sich fürs Weggehen zu rechtfertigen, bleibt. So haben in letzter Zeit gleich eine ganze Reihe von potenziellen oder tatsächlichen Emigranten öffentlich darüber geschrieben. Für einen regelrechten Aufruhr hat dann allerdings das Facebook-Posting eines Kassenbons aus Berlin gesorgt, mit Preisen, von denen Israelis nur träumen können. Daneben ist ein Schokopudding für 19 Eurocent abgebildet – er wurde zum Symbol für eine hitzig geführte Debatte über unverändert hohe Lebenshaltungskosten, den sozialen Protesten vom Sommer 2011 zum Trotz. Der 25-jährige Gründer der Facebook-Seite, der lieber anonym bleiben will, zählte innerhalb weniger Stunden 80.000 Besucher.

Die kollektive Erinnerung an den Holocaust werde für einen Schokopudding geopfert.

Die Nachricht vom billigen Dessert traf einen empfindlichen Nerv. Allein schon der Name der hebräischen Facebook-Seite „Olim le Berlin“ ließ nicht wenige zusammenzucken. Man sollte aber die Proportionen wahren. Ja, es gibt eine real existierende Angst der israelischen Mittelschicht vor dem Absturz, auch sind die Lebenshaltungskosten in Berlin tatsächlich viel niedriger, und man schätzt, dass sich mittlerweile 20.000 Israelis in der deutschen Hauptstadt aufhalten. Aber das belegt noch lange keinen echten Auswanderungstrend.

Fania Oz-Salzberger hat bereits 2001 über das sich damals gerade erst abzeichnende Phänomen der „Israelis in Berlin“ ein Buch veröffentlicht. Sie bestätigt zwar den Zorn der Jungen auf die Jerusalemer Regierung, weil diese es nicht geschafft hat, Kosten zu senken, aber in ihren Augen signalisiert der jüngste Berlin-Exodus deshalb nicht das Ende des Zionismus. Denn wenn diese Israelis sich nur nach billigeren Preisen sehnen würden, müssten sie ja wohl eher nach Bangkok gehen, sagt sie. Fania Oz-Salzberger sieht vielmehr eine „einzigartige Kombination“ von Faktoren am Werk, die ihre jungen Landsleute heute nach Berlin ziehen lässt: ein globaler Trend, die historische Bedeutung der Stadt einschließlich ihrer Nazi-Vergangenheit, kreative Energien, kulturelle Tiefe, liberale Politik und eine aufgeschlossene Haltung gegenüber Juden. In gewisser Weise gehöre Berlin zur „Geschichte jedes einzelnen Israeli“ – und das werde so bleiben, auch wenn das Leben dort einmal teurer und somit weniger attraktiv wäre. Allerdings wünscht sich die Historikerin, dass die soziale Protestbewegung von 2011, die nun gerade versucht, wieder auf die Beine zu kommen, eine interne Sache zwischen Tel Aviv und Jerusalem bliebe.

Ja, es gibt eine real existierende Angst der israelischen Mittelschicht vor dem Absturz, die Lebenshaltungskosten sind in Berlin viel niedriger, und man schätzt, dass sich mittlerweile 20.000 Israelis in der deutschen Hauptstadt aufhalten.

Eldad Beck, langjähriger Berlin-Korrespondent von Yedioth Acharonot, drückt sich da schon weniger zurückhaltend aus. In seinem neuen Buch über Deutschland, das gerade auf Hebräisch erschienen ist, schreibt er gegen die „völlig verzerrte“ Beziehung der Israelis zu diesem Land an. Was erst von starker Ablehnung geprägt war, sei jetzt durch eine blinde Verliebtheit geprägt. Die kollektive Erinnerung an den Holocaust werde für einen Schokopudding geopfert, schimpft er jetzt. Den jüngsten Protest in Form von Auswanderung nach Deutschland hält er für „skandalös, opportunistisch und lächerlich“.

Immerhin widmete seine Zeitung dem Vergleich Berlin ‒ Tel Aviv fast eine ganze Beilage. Demnach sind deutsche Milchprodukte und Mieten preislich nicht zu unterbieten, aber dafür gibt es eine höhere Arbeitslosigkeit und Gesundheitskosten. In Haaretz erschien die Karikartur eines jungen israelischen Vaters in Berlin, der seinem essunwilligen Baby beim Füttern von Schokopudding mit der Gestapo droht.

Von dem jüngsten Berlin-Hype distanzieren sich aber auch Israelis, die selbst Teil davon sind. Liran, 30, zieht im nächsten Frühjahr mit seiner Freundin in die deutsche Hauptstadt. Beide sind Musiker, lernen seit Jahren Deutsch in den immer überfüllteren Kursen des Tel Aviver Goethe-Instituts. Ihm war immer schon klar, dass er einmal beruflich nach Europa gehen würde. Mit dem neuen „Herdentrieb“ nach Berlin will er nichts zu tun haben. „Auf einmal haben alle Berlin entdeckt und sagen, dass dort alles besser ist. Hier ist nicht alles schlechter, nur sind eben die falschen Sachen teuerer.“

Zwei Monate nach dem Gazakrieg ist erstaunlich, wie wenig die unsichere nahöstliche Großwetterlage als Auswanderungsgrund eine Rolle spielt. „Wir sind daran gewöhnt, dass solche Krisen kommen und gehen“, sagt Liran. „Außerdem haben wir hier in Israel ja weiterhin Familie und wollen eigentlich lieber bei ihr sein, wenn es brenzlig wird.“ Im Alltag aber zieht er Berlin vor.

So kommt es zu einer interessanten Rochade. Juden aus Paris und London wandern derzeit in Scharen nach Israel ein, weil sie sich seit den immer aggressiveren antiisraelischen Demonstrationen nicht mehr sicher fühlen. Israelis wiederum ziehen nach Berlin, weil sie sich dort mehr Freiräume erhoffen. Diese Zugezogenen bilden aber keine Einwanderergemeinde, sondern eine israelische Diaspora. Man konsumiert also lieber israelische Medien als deutsche und interessiert sich im Zweifelsfall auch weniger als angestammte Berliner Juden für politische Entwicklungen in Deutschland.

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