Israelischer Film in Bewegung

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Seit vielen Jahren lehrt der jüdische Historiker und Filmwissenschaftler Frank Stern an der Universität Wien über visuelle Zeit- und Kulturgeschichte, israelischen und jüdischen Films. Mit 70 Jahre Kino widmet er sich in seiner aktuellen Schwerpunktreihe im Wiener Metrokino dem israelischen Film zwischen Geschichte und Innovation, Tradition und Gegenwart. Interview: Angela Heide

 

WINA: Sie wurden 1944 im ostpreußischen Tapiau geboren, einer Kleinstadt, die heute in Russland liegt. Sind Sie dort auch aufgewachsen?

Frank Stern: Im Prinzip ist es eine Schoah-Geschichte, obwohl ich es nie so erzähle. Im Grunde existiere ich auch gar nicht, denn so etwas wie eine Geburtsurkunde hätte für meine Mutter und mich die Einlieferung in ein Konzentrationslager bedeutet. Aber das Kriegsende war nicht mehr sehr weit. Meine Eltern waren die letzten unsichtbaren Juden des Ortes, fast alle anderen konnten sich noch durch Emigration retten. Doch meine Mutter war eine tapfere Frau und meinte einmal zu mir: „Nach Stalingrad waren wir optimistisch.“ Nach der Befreiung durch die Rote Armee ist der überlebende Rest meiner Familie dann nach Berlin gegangen.

Wie war Ihre Schulzeit im Berlin nach 1945?

Schon meine Schulzeit war eine Art „Bürgerkrieg“ zwischen mir und den Lehrern. Ich war das einzige jüdische Kind an der Schule, die Lehrer waren zu einem Großteil Wehrmachtsoffiziere, die Lehrerinnen BDM-Führerinnen, und ich habe im Grunde an der Schule nach 1945 dieselben Erfahrungen gemacht wie meine Mutter nach 1933. Meine Altersgruppe, also alle jüdischen Kinder, die um 1945 geboren wurden, sind in eine Zeit der  antagonistischen Erinnerungen aufgewachsen: Es gab die Erinnerungen jüdischer Überlebender. Und es gab die Erinnerung der nichtjüdischen Deutschen und Österreicher. Wir sprachen von Lagern und meinten die Konzentrationslager, und sie sprachen von Lagern und meinten die Kriegsgefangenenlager, in denen ihre Väter und Onkel waren. Das war für mich prägend.

Sie haben dennoch 1963 in Berlin mit dem Studium der deutschen und jüdischen Geschichte und Literatur begonnen, sind jedoch schon bald darauf für ein Jahr in einen Kibbuz gegangen und haben danach Politikwissenschaft, englische Literatur und jüdische Geschichte an der Hebrew University in Jerusalem studiert.

Man kann diese Wochen in Berlin nach der Matura nicht wirklich zu meinem Studium zählen, der konservative Geist der dortigen Universität zu dieser Zeit hat mich dermaßen erschreckt, dass ich binnen weniger Wochen nach Israel gegangen bin. Im Kibbuz Beit HaShita habe ich ganz klassisch einen halben Tag gearbeitet, mich zum Olivenspezialisten ausbilden lassen und an den restlichen Stunden des Tages modernes Hebräisch und israelische Geschichte gelernt, ehe ich dann mein Studium fortgesetzt habe.

Sie haben schließlich an der Universität Tel Aviv in neuerer deutscher Geschichte und Kulturgeschichte promoviert und waren schon während des Studiums in verschiedenen akademischen Funktionen tätig. Bereits während Ihrer Promotion haben Sie an der School of  History in Tel Aviv unterrichtet. Es folgten der Aufbau des Zentrums für Österreichische und Deutsche Studien an der Ben-Gurion Universität des Negev in Be’er Scheva und internationale Gastprofessuren in New York, Washington, Bloomington, Berlin, Potsdam, Budapest und vielen anderen renommierten Universitäten.

Vieles hat mit der Mobilität von Akademikern zu tun, das sind nicht immer Entscheidungen, in welchem Land oder welcher Stadt man gerne leben möchte, sondern wo man optimal Dinge umsetzen kann, die innovativ, die neu, die kreativ sind. Und das hat zu diesen zahlreichen Berufungen und Beauftragungen an unterschiedlichen Orten in Israel, im deutschsprachigen Raum, aber eben auch in den USA geführt. Es waren aber immer auch Orte, an denen mir die Kultur, die Sprache vertraut waren. Orte, an denen es Familie und Freunde gab. Ich habe nun einmal bedingt durch die NS-Verfolgung Familie im deutschen Sprachraum, in Israel und in den USA. Anders gesagt: Es gibt viele Orte auf dieser Welt, an denen ich mich sehr wohl fühle.

Was hat Sie schließlich nach Wien geführt, wo Sie seit bald 15 Jahren leben und arbeiten?

Meine Liebesgeschichte mit Wien begann schon in den Neunzigerjahren. Ich lehrte damals in Be’er Scheva, hatte Projekte mit KollegInnen in Wien über Erinnerungskultur und beteiligte mich an einem großen Projekt zu den Überlebenden von Mauthausen. Daran schlossen sich Gastprofessuren an der Universität Wien an. Zuerst waren es zwei Gastprofessuren, und als ich 2004 dem Ruf nach Wien gefolgt bin, hatte ich hier schon eine Reihe von Studierenden, die mit mir arbeiten wollten, während in gleichzeitig Projekte und Dissertationen in Israel betreute. Und es gab die wunderbare Möglichkeit, den Schwerpunkt „Visuelle Zeit- und Kulturgeschichte“ am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien aufzubauen.

Sie haben sich schon sehr früh mit der Geschichte des jüdischen Films beschäftigt, waren bereits während des Studiums Berater für Dokumentarfilmemacher zu jüdischen Themen, wie kam es dazu?

Meine Mutter war eine leidenschaftliche Kinobesucherin. Als das NS-Regime den Besuch von Kinos für Jüdinnen und Juden verboten hat, hat meine Mutter die Kassiererin des einzigen Kinos von Tapiau, das gegenüber unserem Haus lag, flehentlich gebeten, ob sie nicht dennoch weiterhin in die Vorstellungen gehen darf. Die Kassiererin hat meiner Mutter daraufhin den Vorschlag gemacht, dass sie immer erst kommen solle, wenn es schon dunkel im Saal war, und den Saal noch vor Ende des Filmes verlassen müsse, um so nicht gesehen zu werden. Das ging dann auch für einige Jahre gut, hatte aber die Folge, dass meine Mutter nie die Schlüsse der Filme sehen konnte. Und so kam es, dass mich meine Mutter schon ab dem zarten Alter von drei oder vier Jahren ständig ins Kino mitgenommen hat, um alle jene Filme noch einmal zu sehen, von denen sie bis dahin nie die Enden gekannt hatte. Und so begann – mit Ufa-Filmen und Wien-Filmen der 30er- und 40er-Jahre – meine Filmerziehung. Und dieses Interesse setzte sich dann nahtlos fort, zum Beispiel auch im Kibbutz, wo wir jeden Freitag im Freien einen Film ansahen, um danach in der doch sehr heterogenen Gesellschaft, die in diesem Kibbutz lebte, über den Film zu diskutieren. Damals habe ich gemerkt, wie intensiv ich doch mit dem Medium Film aufgewachsen war und wie wichtig es mir ist, darüber zu reden und visuelles Material für meine Arbeit einzusetzen. Für mich ist Film natürlich Kunst, aber er ist darüber hinaus auch im großen gesellschaftlichen Zusammenhang zu sehen, kann wesentlicher Teil humanistischer Aufklärung sein. Und hierbei natürlich dann besonders Filme, die sich mit der Schoah, mit Antisemitismus, mit vor allem Israel beschäftigen.

Sie leiten seit vielen Jahren den Jüdischen Filmclub sowie zahlreiche Filmreihen in Wien und in Mauthausen. Wie hat diese intensive Auseinandersetzung mit dem jüdischen und israelischen Film begonnen?

Durch die Gastprofessuren hatte ich schon sehr gute Kontakte zum Filmarchiv Austria, und als ich die Wiener Professur annahm, war rasch klar, ich werde hier öffentliche Filmreihen veranstalten und versuchen, das immer wieder mit meiner Arbeit an der Universität Wien zu verbinden. So gab es bereits 2005 die ersten Filmreihen und 2008 dann mit 60 Jahren israelischer Film die bisher größte Retrospektive des israelischen Films in Europa. An der Universität leite ich in jedem Semester eine Lehrveranstaltung, die sich mit einem anderen Aspekt des israelischen, des jüdischen Filmes beschäftigt. Und auch in Mauthausen kuratiere ich seit über 12 Jahren eine jährliche Filmreihe, die sich speziell mit den verschiedenen Themen der Schoah im Film beschäftigt.

Sie kuratieren in diesem Frühling die Reihe Alt-Neuland auf der Leinwand: 70 Jahre israelischer Spielfilm, ein Gemeinschaftsprojekt zwischen der Universität Wien, der Botschaft des Staates Israel und dem Metro Kinokulturhaus. Welche  Filme haben Sie ausgewählt und warum?

Tatsächlich ist es ein neues Format: eine Veranstaltung an der Uni und ganz unabhängig davon eine Filmreihe im Metrokino, die ich gestalten durfte. Die Vorlesung ist direkt im Kino, öffentlich und bei freiem Eintritt. Wichtig ist mir zu betonen, dass auch die Jerusalem Cinematheque und das Steven Spielberg Jewish Film Archive zu den beteiligten Institutionen gehören, sodass eine wunderbare israelisch-österreichische Zusammenarbeit entstanden ist, die dann auch ein Programm wie das vorliegende zu 70 Jahren israelischem Spielfilm erst ermöglicht. Ich habe dabei sieben Spielfilme ausgewählt, die die Vielfalt des israelischen Kinos in seiner Gesamtheit darzustellen versuchen. Zu den inhaltlichen Komplexen zählen u. a. der Unabhängigkeitskrieg, der Zionismus, die Aufnahme der europäischen Filmtradition in Israel, etwa durch die Rezeption der Nouvelle Vage ab den 60er-Jahren, der Alltag im Kibbutz, in Jerusalem, der Alltag von Schoah-Überlebenden in Israel, aber auch aktuelle Themen wie Migration, Integration und das Bewahren kultureller Traditionen, etwa im  letzten Film der Reihe, Anashim Ketumim von Hana Azoulay-Hasfari, einer der herausragendsten Vertreterinnen des heutigen Misrachi-Films.

Innerhalb dieser Retrospektive bringen Sie zusätzlich eine Spezialreihe mit Filmen über Utopie und Zionismus.

Diese kleine Reihe, die von  3. bis 8. Mai ebenfalls im Metrokino läuft, ist mir ganz besonders wichtig, zeigen wir doch damit zum Großteil unbekannte und bis heute hier nicht gezeigte Filme über die  Bedeutung und positive Funktion des Zionismus, u. a. den 1913 entstandenen Film The Life of the Jews in Palestine, der noch im Entstehungsjahr beim 11. Zionistenkongress in Wien gezeigt worden war, oder Ben-Dovs frühe zionistische Dokumentation Aviv be’erez Israel über den Aufbau einer modernen Infrastruktur in Palästina 20 Jahre vor der Staatsgründung.

Verändert sich der israelische Film in den letzten Jahren stark?

Ja, der israelische Film verändert sich vehement. Und diese Veränderungen versuchen wir mit dem von mir und Klaus Davidowicz geleiteten Jüdischen Filmclub seit vielen Jahren einem Wiener Publikum zu zeigen. So haben wir vor Kurzem einen der wichtigsten Filme der letzten Jahre gezeigt: Maktub (Es steht geschrieben), eine junge Gaunerkomödie, die sich auf großartige Weise in der Tradition eines Ernst Lubitsch auch mit dem aktuellen Terror befasst. Ich sehe ganz wunderbare Entwicklungen im israelischen Film, und umso wichtiger ist es in meinen Augen, dass diese Filme hier auch gezeigt werden.

Sie beschäftigen sich auch mit aktuellen israelischen Serien oder  der wachsenden Bedeutung von Frauen im israelischen Film. Wie wichtig ist diese große Bandbreite an Themen für Sie?

Sich den kulturellen Zusammenhängen und Konflikten zu stellen, dass schaffen wir nicht über Kriegsfilme. Diese Tendenz, in deutschsprachigen Landen aus Israel vor allem Kriegsfilme zu zeigen, ist höchst problematisch. Die meisten Fernsehserien, auch in Israel, behandeln nicht den Krieg. Wir müssen schauen, wie Menschen zusammenkommen. Was sind trennende, was sind verbindende Werte, wie können Konflikte gelöst werden. Und ich glaube, da vermag der Film unendlich viel hinsichtlich des Abbaus von Stereotypen und Klischees. Film kann ein wichtiges Mittel sein, um Einstellungen zu ändern. Film verändert nicht die Welt, aber er verändert Einstellungen, Wahrnehmungen, das Denken über den kulturelle Anderen.

Hervorzuheben ist hier auch die enorme Bedeutung von Filmemacherinnen. Die Rolle von Frauen im heutigen israelischen Film ist einfach herausragend, sie haben die Filmlandschaft in Israel tatsächlich nachhaltig verändert. Ich werde dazu im Herbst sogar eine eigene Filmreihe leiten über starke Frauen vor und hinter der Kamera und Empowerment im israelischen Film, auf die ich mich schon sehr freue.

Wie setzen sich Ihre StudentInnen zusammen?

Die einen kommen, weil es sich um Film handelt, weil sie neugierig sind, weil sie wissen, dass man viel diskutieren kann, auch, dass man selbst Kurzfilme machen kann. Und dann gibt es natürlich auch die inhaltliche Motivation. Ich würde aber schon sagen, dass diejenigen – und es sind sehr unterschiedliche Altersgruppen, die meine Lehrveranstaltungen und Filmreihen besuchen. Diejenigen die zum Beispiel zu Film Noir  und zum Exilfilm kommen andere sind als die, die zum israelischen Film kommen. Die Mehrheit hat jedoch keinen jüdischen Familienhintergrund. Das heißt auch, dass ich sehr viel vermitteln muss, wenn es um jüdische Geschichte, Tradition und Judentum, die Geschichte Israels geht. Das macht ja auch Spaß.

Sie arbeiten seit Jahrzehnten unermüdlich zum jüdischen und israelischen Film. Wie wichtig ist diese Kontinuität?

Über die vielen Jahre des Jüdischen Filmclubs hat sich ein Stammpublikum herausgebildet, das von Gymnasiasten bis zu PensionistInnen reicht und einen beeindruckenden jüdisch-nichtjüdischen Querschnitt bildet. Die Filme werden einmal im Monat im Metrokino gezeigt und eingeleitet, danach wird gemeinsam diskutiert. Diese Kontinuität finde ich enorm wichtig, und ich merke immer wieder, wie sehr das auch Einfluss auf das wachsende Interesse des Publikums hat. Wenn ich am Ben-Gurion-Flughafen angesprochen werde, wann denn wieder der nächste Film in Wien laufen wird und zu welchem Thema, dann freut mich das sehr.

 

Alt/Neuland. 70 Jahre Israelischer Film

Filmreihe von 6. März bis 19. Juni 2018

Metro Kinokulturhaus, Johannesgasse 4, 1010 Wien

 

Nächste Vorstellungen bis Juni:

Di., 24.4.2018 18 Uhr: Kayitz Shel Aviya/Summer Of Aviya, 1988 (R.: Eli Cohen)

Di., 8.5.2018, 18 Uhr: Oded Ha’Noded/Oded The Wanderer, 1932 (R.: Haim Halachmi)

Di., 5.6.2018, 18 Uhr: Sof Ha’Olam Smallah/Turn Left At The End Of The World, 2004 (R.: Avi Nesher)

Di., 19.6.2018, 18 Uhr: Anaschim Ketumim/Orange People, 2013 (R.: Hana Azoulay-Hasfari)

Zionismus und Utopie

Dokumentar- und Spielfilme von 1913 bis 1947

Spezialreihe von 3. bis 6. Mai 2018
Metro Kinokulturhaus, Johannesgasse 4, 1010 Wien

Programm:

Do., 3.5.2018, 19 Uhr: Chaye Ha’yehudim Ba’eretz Israel/Jewish Life In Eretz Israel, 1913 (R.: Noah Sokolowski)

Sa., 5.5.2018, 19 Uhr: Awodah/Arbeit, 1935 (R.: Helmar Lerski) & Hatikvah/Die Hoffnung, 1936 (R.: Georg Engel)

Sa., 5.5.2018, 21 Uhr: Shivat Zion/Rückkehr nach Palästina, 1920 (R.: Yaakov Ben-Dov)

So., 6.5.2018, 19 Uhr: Aufbruch der Jugend, 1934 (R.: Eva Stern/Marta Goldberg) & Me’klalah Le’bracha/Out of Evil, 1951 (R.: Joseph Krumgold)

So., 6.5.2018, 21 Uhr: Frühling In Palästina/Springtime In Palestine, 1928 (R.: Josef Gal-Ezer/Yaakov Ben-Dov)

Links:

juedischer-filmclub.at
filmarchiv.at
mauthausen-memorial.org

 

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